Berühmte Behinderte Frauen
Wilma Rudolph (1940-1994) - Die „schwarze Gazelle“
von Anneliese Mayer
Die Paralympischen Spiele in London 2012 waren laut den Medienberichten Spiele der Superlative: SportlerInnen aus 165 Nationen nahmen teil, wobei der Frauenanteil mit 1513 (bei insgesamt 4200 AthletInnen) bisher der Höchste war, 24 Millionen Menschen verfolgten die Spiele live oder über den Bildschirm, und es hagelte einen Weltrekord nach dem anderen. Der Werbeslogan des privaten, britischen Fernsehsenders Channel 4 für diese Paralympics lautete deshalb auch: „Meet the Super-humans“. „Über-“Menschen, die durch den Sport ihre Behinderung überwinden, so wurde immer wieder hervorgehoben. (Zu den unumstrittenen Stars der 14. Paralympics gehörte Oscar Pistorius, ein beinambutierter Sprinter aus Südafrika, der sich selbst als “nichtbehindert, aber beinlos“ bezeichnet. Er hatte wenige Wochen zuvor an den Olympischen Sommerspielen als erster prothesentragender Leichtathlet teilgenommen Ein erster Schritt zur Inklusion im Spitzensport?)
Eine Athletin, die bereits Mitte des vorigen Jahr-hunderts demonstrierte, dass durch eisernes Training eine Behinderung zu überwinden ist, war die Afroamerikanerin Wilma Rudolph, gemäß dem selbstbewussten Motto „Yes, we can!“.
Wilma Glodean Rudolph wird am 23. Juni 1940 in St. Bethlehem, einer Stadt im US- Bundesstaat Tennesse als 20. von 22 Kindern geboren. Ihr Vater Ed hat vor seiner Pensionierung als Gepäckträger gearbeitet und seine zweite Frau Blanche – Wilmas Mutter - ist im Haushalt einer weißen Familie beschäftigt. Wilma ist eine Frühgeburt und wiegt 4,5 Pfund.
Das kleine Mädchen ist sehr anfällig für Krankheiten. Mit vier Jahren erkrankt es an einer doppelseitigen Lungenentzündung. Eine Scharlachinfektion lässt die Familie um sein Leben bangen. Daran schließt sich eine Polioinfektion an, die zu einer Lähmung des linkes Beines und Fußes führt. Wilma kann sich nur mit Krücken fortbewegen. Der Prognose der Ärzte ist, dass sie beim Gehen immer auf Hilfsmittel angewiesen sein wird. Diese Aussage wird von der Familie nicht akzeptiert. Da in Clarksville, wo die Rudolphs seit geraumer Zeit leben, aufgrund der herrschenden Rassentrennung keine adäquate medizinische Hilfe zu finden ist, fährt die Mutter mit Wilma jede Woche zweimal in das 80 km entfernte Nashville. Hier wurde Mitte des 19. Jahrhunderts – in der kurzen Zeit der Reconstruction (In der Zeit zwischen 1865-1876 wurden der schwarzen Bevölkerung der USA offiziell die Bürgerrechte zuerkannt, nachdem Abraham Lincoln als Präsident die Sklaverei abgeschafft hatte.) nach dem Bürgerkrieg - die erste private Hochschule für Afroamerikaner gegründet, die Fisk-University. Am dortigen Gesundheitszentrum wird die Kinderlähmung physiotherapeutisch behandelt. Zuhause sind alle Familienmitglieder bereit, Wilmas linkes Bein täglich mehrmals zu massieren und sie zu Übungen anzuspornen. Das Resultat ist überwältigend: Mit neun Jahren kann Wilma die Stöcke in die Ecke stellen. Nun trägt sie weitere zwei Jahre lang einen orthopädischen Schuh, der dann auch ausgedient hat, nachdem sie am Basketballspiel ihres Bruders Gefallen findet: „Wilma war elf Jahre alt, als ihr Bruder Westley einen Korbball erhielt und im Garten einen Obstkorb auf einem Pfosten montierte. Auch Wilma spielte bald begeistert Korbball. Trotz ihrer schweren orthopädischen Stiefel wich sie humpelnd und kreisend ihrem Bruder aus, drippelte halbgeduckt den Ball vor sich her und sprang in die Höhe, um ihn in den Korb zu werfen. Eines Tages zog Wilma ihre Stiefel aus und sprang barfuß unter dem Obstkorb umher. Ihrer Mutter verschlug es bei der Rückkehr von der Arbeit vor Staunen die Sprache.“
Das Basketballspiel wird ihre Leidenschaft. Sie spielt in der High School Mannschaft mit und kann bald erstaunliche Erfolge vorweisen. Der Leichtathletiktrainer an der Tennessee State University – Ed Temple – entdeckt die Amateurspielerin 1955, als er selbst als Schiedsrichter bei einem Match dabei ist. Er sieht, welcher Ehrgeiz in der jungen Wilma steckt und vermittelt ihr ein Sportstipendium an seiner Hochschule. Er trainiert sie zu einer herausragenden Läuferin, die sich bereits 1956 für die Olympischen Spiele in Melbourne qualifizieren kann. Dort gewinnt sie eine Bronzemedaille in der 4x100 m Staffel.
Ihre sportliche Karriere muss sie für zwei Jahre unterbrechen, da sie schwanger wird. Vater ihrer 1958 geborenen Tochter ist ihr Sportskollege Robert Elbridge. Jedoch schon ein Jahr nach der Geburt findet man die 1,81 m große und sehr schlanke Frau wieder bei Wettkämpfen, z.B. bei den panamerikanischen Spielen in Chicago.1960 (Vom 18.-25. September 1960 fanden in Rom auch die ersten offiziellen paralympischen Spiele statt, an denen damals nur querschnittsgelähmte SportlerInnen teilnehmen konnten.) ist das Jahr, in dem sie von einem Erfolg zum nächsten durchstartet: Im Juli erringt sie im 200 m Lauf mit 22,9 sec. den Weltrekord. Der Höhepunkt sind die Olympischen Spiele in Rom, wo sie drei Goldmedaillen gewinnt: Die 100 Meter läuft sie in 11 Sekunden (die jedoch wegen zu starkem Rückenwind nicht als Weltrekord gewertet werden) und im 200 m Lauf ist sie ihrer Konkurrentin Jutta Heine um vier Zehntelsekunden voraus. Das dritte Gold gewinnt sie als Schlussläuferin in der 4 x 100 m Staffel. Wilma Rudolph wird über Nacht zu einem umjubelten Star. Man nennt sie von nun an aufgrund ihrer Schnelligkeit und ihrer Hautfarbe „Die schwarze Gazelle“.
Der Gouverneur von Tennessee möchte ihr zu Ehren eine Parade abhalten. Wilma Rudolph macht daraus ein Politikum. Sie gibt ihre Zustimmung für diese Feier ihr zur Ehren nur unter der Bedingung, dass Menschen aller Hautfarben daran teilnehmen dürfen. So geschieht es, dass bei der Parade und dem anschließenden Bankett die schwarzen und weißen Bürger der Stadt Clarksville nebeneinander stehen. Durch diese Demonstration gegen die Rassentrennung gehört Wilma Rudolph zu einem Vorbild der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die zu Beginn der sechziger Jahre immer mehr an Stärke gewinnt.
Ihre sportliche Karriere kann sie auch die nächsten zwei Jahre fortsetzen. In Moskau, beim ersten Länderspiel zwischen den USA und der UdSSR, erzielt sie 1961 beim 100 m Lauf mit 11,3 sec. den Weltrekord, der vier Tage später in Stuttgart auf 11,2 Sekunden verbessert wird. Zu diesem Zeitpunkt tritt sie bereits nicht mehr zu 200 m Läufen an, da es sie zu sehr anstrengt. Im September 1962 verabschiedet sie sich von der sportlichen Bühne. Der Grund ist ein operativer Eingriff (Appendektomie – Blinddarm) und eine Schwangerschaft. Sie hatte 1961 den Baseballspieler William Ward geheiratet. Die Ehe hält jedoch nur zwei Jahre. Unmittelbar nach der Scheidung von Ward folgt die Ehe mit ihrem Jugendfreund und Vater ihres ersten Kindes, von dem sie ein zweites Kind erwartet. Wilma Rudolph hat gemeinsam mit Eldridge zwei Töchter und zwei Söhne. Robert Eldridge und sie werden 1980 geschieden.
Nachdem Wilma Rudolph ihren Bachelor als Grundschullehrerin gemacht hat, gibt sie viele Jahre Sportunterricht. Sie ist Basketball- und Leichtathletiktrainerin, sie kommentiert Sportsendungen im Fernsehen und tritt in Werbespots auf. Sie schreibt zwei Sportbücher und hält Vorträge. Sie gründet 1967 auf Initiative des Vizepräsidenten der USA, Hubert Humphrey, die „Wilma Rudolph Foundation“, um afroamerikanische Kinder aus Ghettos für den Sport zu begeistern. Besonders am Herzen liegt ihr die Förderung von jungen afroamerikanischen Nachwuchssportlerinnen, wie beispielsweise Florence Griffith Joyner, die, was den Goldmedaillengewinn angeht, voll in ihre Fußstapfen tritt.
1977 erscheint ihre Autobiografie unter dem Titel „Wilma. The Story of Wilma Rudolph“, die anschießend für das Fernsehen verfilmt wurde. Drei Jahre zuvor war sie als erste afroamerikanische Athletin in die Hall of Fame aufgenommen worden. Kurz nachdem bei Wilma Rudolph im Juli 1994 ein Hirntumor festgestellt wurde, verstarb sie am 12. November in ihrem Haus in Brentwood, einem Vorort von Nashville.
Quellen:
Da die deutschsprachigen Veröffentlichungen über Wilma Rudolph sehr widersprüchlich zu den englischsprachigen sind, habe ich mich vorwiegend an die letzteren gehalten, wobei ich mir wohl bewusst bin, dass sie Übertreibungen enthalten können.
en.wikipedia.org/wiki/Wilma_Rudolph
www.lkwdpl.org/wihohio/rud-wil.htm Women in history. Living vignettes of notable women from U.S. history
www.helloarticle.com/de Wilma Rudolph - Die „schwarze Gazelle“
Luise F. Pusch und Susanne Gretter (Hrsg): Berühmte Frauen. 300 Portraits, Frankfurt am Main 1999
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. August 2012
aus WeiberZeit Nr. 22/Dezember 2012 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
Erscheinungsweise: vierteljährlich
Herausgeberin
Weibernetz e.V. - Projekt „Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“
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