Berühmte behinderte Frauen

Unica Zürn (1916-1970)

 

von Anneliese Mayer

 

Unica Zürn, Schriftstellerin - Familie Zürn

Sie war 1959 auf der documenta II mit ihren Zeichnungen vertreten. 1967 wurden ihre Bilder und Zeichnungen neben den Werken ihres Lebensgefährten Hans Bellmer in Hannover ausgestellt. Aber keiner nahm sie als eigenständige Persönlichkeit und als Künstlerin richtig wahr. Das änderte sich auch nach ihrem Tode nicht – zumindest in Deutschland, wo sie die ersten zwei Drittel ihres Lebens verbrachte. Sie hat es von ihrem Wesen her nicht verstanden, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Ihre Kunst wurde nicht von anderen hervorgehoben. Damit hat sie eine große Gemeinschaft mit den Frauen der Surrealisten, deren Produktionen bis auf wenige Ausnahmen (Meret Oppenheim) keine große Bedeutung in der Kunstgeschichte einnehmen. Und Unica Zürn zählt auf jeden Fall zu den Surrealisten, und war auch auf deren letzter Ausstellung „Exposition du internationale surréalisme“ in Paris zu sehen, die im gleichen Jahr wie die documenta II stattfand.

 

Ich selbst hatte sie in den letzten Dezembertagen des Jahres 2009 entdeckt, als ich in Heidelberg die temporäre Ausstellung „Surrealismus und Wahnsinn“ in der Sammlung Prinzhorn besuchte.

 

„Indem ich alle Hoffnung auf Wärme aufgebe, morde ich die Kälte.“

 

Nora Berta Ruth Zürn wurde mitten im Ersten Weltkrieg, am 6. Juli 1916, in Berlin geboren. In ihrer Erzählung „Dunkler Frühling“, die sie 1967 schreibt, erinnert sie sich an ihre Kindheit. Da ist der über alles geliebte Vater. „Sie (ist) voller Vertrauen für alles, was vom Mann kommt“ (Zürn 1982, S. 173). Doch dieser Mann ist ein idealisierter Vater. Er glänzt durch Abwesenheit. Tatsächlich war Ralph Zürn von 1902 bis 1904 Kolonialoffizier in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia), hatte sich 1910 von seiner ersten Frau scheiden lassen und 1913 Helene Pauline Heerdt geheiratet – Ruths Mutter. Nach dem ersten Weltkrieg arbeitete er als Journalist und Kleinverleger. 

 

Zu der Mutter findet sie keinen Zugang. So beschreibt die inzwischen über 50 jährige Unica Zürn in der distanzierten dritten Person ein damaliges Erlebnis mit der Mutter:  „An einem langen Sonntagmorgen kriecht sie zu ihrer Mutter ins Bett und erschreckt sich vor diesem großen, dicken Körper, der seine Schönheit schon verloren hat. Die unbefriedigte Frau überfällt das kleine Mädchen mit offenem, feuchten Mund, aus dem sich eine nackte Zunge herausbewegt, lang wie das Objekt, das ihr Bruder mit der Hose verhüllt.

 

Entsetzt stürzt sie aus dem Bett und fühlt sich tief gekränkt. Eine tiefe und unüberwindliche Abneigung vor der Mutter und der Frau entsteht in ihr. Sie weiß nicht, dass die Ehe der Eltern ein Versagen ist, sie ahnt es jedoch.“ (Zürn 1982 S. 174 f) (1930 lassen sich die Eltern scheiden).

 

Auch dem zwei Jahre älteren Bruder kann sie nur Hass und Verachtung entgegenbringen. Er hat sie vergewaltigt. Es ist leicht vorstellbar, dass die Erlebnisse aus ihrer Kindheit, die Ursache für die Ambivalenz sind, die Unica Zürn mit ihrer Rolle als Frau hatte. Rückblickend wird sie erkennen:  „Das männliche Wesen ist mir so unbegreiflich wie das weibliche Wesen. Kein Weg dorthin, keine Möglichkeit für mich. Ich kann mich dort nicht anfreunden. Welche schreckliche Scham mich ergreift, wenn ich das Männliche oder das Weibliche in mir entdecke.“ 

 

„Wie wohl wäre mir, könnte ich etwas sein, was weder Mann noch Frau sich nennen würde. Vielleicht würde ich  dann zu mir kommen? Ich habe meines Wissens weder vom Mann noch von der Frau zuviel bekommen, jedoch genug um es als hinderlich zu empfinden. Meine zeitweisen Bemühungen, weder das eine noch das andere zu sein, führten zu keinem Ergebnis.“ (Das Weiße mit dem roten Punkt. „In großer Angst geschrieben am 24. Februar 1959“ In: Unica Zürn: Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling) (Zürn 1982, S. 132 und 133)

 

So kommt es, dass die kleine Ruth oft allein ist und sich in eine Phantasiewelt einspinnt, die bevölkert wird von den Helden aus Büchern und aus dem Kino. Auch diese Helden sind männlich: Kapitän Nemo aus Jules Vernes Abenteuerroman „20000 Meilen unter dem Meer“ oder Douglas Fairbanks in dem Film „Der Dieb vom Bagdad“. Im Haus in Berlin-Grunewald, in dem sie die ersten zwölf Jahre ihres Lebens verbringt, kann sie durch dessen exotische Innenausstattung ihre Traumwelt noch ausgestalten.  Die zwölf Zimmer sind mit arabischen Möbeln und golddurchwirkten chinesischen Teppichen eingerichtet. Ein indischer Buddha findet ebenso seinen Platz wie  „seidene Gewänder, die ihr Vater aus dem Orient mitgebracht hat.“ (Zürn 1982, S. 179 f)

 

Ruth Zürn besucht das Gymnasium, bricht aber mit 16 Jahren ab und macht eine kaufmännische Lehre. Sie beginnt bei der UFA zu arbeiten, zuerst als Stenotypistin und ab Mitte der Dreißiger Jahre als Dramaturgin und Drehbuchschreiberin für Werbefilme. 

 

Mit 26 Jahren heiratet sie den Kaufmann Erich Laupenmühlen, ein Jahr darauf kommt ihre Tochter Katrin auf die Welt. Im letzten Kriegsjahr wird ihr Sohn Christian geboren. Ihre Ehe wird jedoch nach sieben Jahren geschieden und Laupenmühlen bekommt das Sorgerecht für die Kinder zugesprochen. Sie muss wieder ihren eigenen Unterhalt verdienen und schafft dies durch Kurzgeschichten, die in Berliner Zeitungen veröffentlicht werden und durch Hörspiele. Die ersten filigranen Zeichnungen entstehen, sicherlich angeregt durch den Maler und Schauspieler Alexander Camaro, mit dem sie eine kurze Affäre hat.

 

„Und dieser Wahnsinn ist meine einzige Stärke.“

 

1953 lernt sie den Künstler Hans Bellmer kennen, der sich gerade in Berlin aufhält. Bellmer lebt seit 15 Jahren in Paris und verkehrt in den Kreisen der Surrealisten. „Die Puppe“, die er Mitte der Dreißiger Jahre geschaffen hat, gilt als sein Hauptwerk. Er nimmt weibliche Schaufensterpuppen, zergliedert sie und setzt sie neu zusammen, wobei die sexuelle Komponente im Vordergrund steht. Angeblich hat Bellmer in Unica Zürn die lebendige Puppe gesehen. Tatsächlich kann man viel von einer Puppe in ihrem Aussehen und Wesen finden: Sie ist hübsch und grazil, schweigsam und verletzlich.

 

Unica, so nennt sich Ruth Zürn inzwischen. Unica von Unikat – Die Einzelanfertigung? Unika ist jedoch das Plural von Unikum. Also mehrere Einzigartige, mehrere Originale? 

 

Von Bellmer wird sie motiviert Anagramme zu schreiben. 1954 erscheinen die „Hexentexte“ als erste Veröffentlichung (In der Erzählung „Der Mann im Jasmin“ erklärt Unica Zürn selbst das Anagramm: „(Anagramme sind Worte und Sätze, die durch  Umstellen der Buchstaben eines Wortes oder eines Satzes entstanden sind. Nur die gegebenen Buchstaben sind verwendbar und keine anderen dürfen zur Hilfe gerufen werden. Das Finden von Anagrammen gehört zu ihren intensivsten Beschäftigungen.)“ (Zürn 1982, S. 18)

 

Hans Bellmer und Unica Zürn leben gemeinsam in sehr beengten und bescheidenen Verhältnissen in Paris. Dass sie sich gegenseitig in ihren künstlerischen Tätigkeiten beeinflussen, ist unbestritten. Ihre Beziehung ist jedoch sehr geprägt von intensiver Anziehung und Versuchen ihrerseits, sich von dem älteren Mann zu trennen. Hat Bellmer die Tendenz, seine Freundin zum Objekt zu machen? Erschreckend sind die Fotos, die die nackte Unica, mit einem Drahtseil verschnürt zeigen, die den Körper jede Lebendigkeit entzieht. Eine abstrakte Anhäufung von Wülsten.

 

Ende der fünfziger Jahre beginnt Unica Zürn ihre ersten Erzählungen zu schreiben. „Les Jeux à deux“ und „Das Haus der Krankheiten“ sind ebenso wie alle ihre weiteren Texte im Stil des „écriture automatique“ verfasst, eine für die Surrealisten charakteristische Schreibweise („Auf die dichterische Tätigkeit bezogen, steht die ‚écriture automatique‘ für den Anspruch, Kreativität aus den Tiefen des Unterbewusstseins, aus Traum und Halluzination zu speisen, gleichzeitig aber die rationalen Kräfte soweit  als möglich auszuschalten.“ In: Cathrin Klingsöhr-Leroy: Surrealismus. Taschen, Köln 2004)

 

In dieser Zeit beginnt auch ihr Wahnsinn. In „Der Mann im Jasmin“ beschreibt Unica Zürn den Verlauf ihrer Krankheiten und benennt ihre „Verrücktheiten“, z. B. die Obsession für die Zahl 9 oder die Fantasie über das Monogramm H.M. Im Herbst 1960 hält sie sich nach einer erneuten Trennung von Bellmer in Berlin auf. Wegen ihres auffälligen Verhaltens (sie randaliert in der Pension, wird obdachlos, zahlt Dienstleistungen nicht) wird sie zuerst verhaftet und anschließend in die psychiatrische Klinik „Karl-Bonhoeffer-Heilstätten“ in Berlin-Wittenau eingeliefert, wo sie ein halbes Jahr verbringt. Die Diagnose lautet „Paranoide Schizophrenie“. Mit einer beeindruckend klaren Selbstbeobachtungsgabe schreibt sie über ihren Wahn, verfolgt zu werden: „Für einen Augenblick kommt sie auf den Gedanken, dass dieser Versuch der Hypnose auf Entfernung, dessen Medium sie geworden ist, bekannt gemacht wurde, ja – dass es vielleicht in allen Städten Menschen gibt, die davon wissen, und dass man über den Erfolg berichtet. Hier erscheint zum ersten Mal der Größenwahnsinn, das sehr angenehme Gefühl, sich im Mittelpunkt zu befinden, ein Eindruck, der ihr bisher vollkommen unbekannt war, denn sie gehört eher zu den schüchternen Menschen, die sich gerne im Hintergrund halten.“ (Zürn 1982, S. 33)

 

Im März 1961 kommt sie nach Paris zurück, aber bereits im September ist ein erneuerter psychiatrischer Klinikaufenthalt notwendig. Während der Unterbringung in Sainte-Anne zeichnet sie sehr viel. So wechseln sich die folgenden Jahre ab zwischen sommerlichen  Aufenthalten mit Bellmer in Ermenonville oder in dessen neuen Wohnung und längeren Klinikunterbringungen. Unica Zürn wird auch zunehmend depressiv und bekommt starke Psychopharmaka. 

 

Im Frühjahr 1967 wird ihre Erzählung „Der Mann im Jasmin“ fertig. „Der Mann im Jasmin“, ist der weiße (weise?) Mann, der oft in ihren Texten auftaucht, der Beschützer, der gelähmte Mann.

 

Im September 1969 erleidet Bellmer einen Schlaganfall, der eine Halbseitenlähmung zur Folge hat. Eine endgültige Trennung scheint sich anzubahnen. Unica Zürn kommt in die Klinik Maison Blanche in Neuilly-sur-Marne – wieder raus - wieder rein – wieder raus. Ihre inzwischen verheiratete Tochter kommt oft zu Besuch. Im April 1970 kommt ein Trennungsbrief von Hans Bellmer, im Mai wird Unica Zürn in eine offene psychiatrische Klinik überwiesen. Ihr Zustand scheint sich zu bessern. Am 18. Oktober wird sie entlassen und geht in die Wohnung von Bellmer. Am Tag darauf geschieht das, was sie am Ende von „Dunkler Frühling“ prophezeit hat.  „Sie steigt auf das Fensterbrett, hält sich an der Schnur des Fensterladens fest und betrachtet noch einmal ihr schattenhaftes Bild im Spiegel. Sie findet sich reizend und eine Spur von Bedauern mischt sich in ihre Entschlossenheit. ‚Vorbei’ sagt sie leise und fühlt sich schon tot, ehe sie mit den Füßen das Fensterbrett verlässt. Sie fällt auf den Kopf und bricht sich den Hals.“ (Zürn 1982 S. 203)

 

Der Mann im Jasmin“ trägt den Untertitel „Eindrücke aus einer Geisteskrankheit“. Neben der genauen Selbstbeobachtung beeindruckt diese autobiografische Erzählung durch die Schilderung der Abläufe in einer psychiatrischen „Heilanstalt“ und einfühlsamen Beschreibung der Mitpatientinnen. Ich halte diese Texte für eine Pflichtlektüre für die Ex-In- Gruppen.

 

Zwei Anagramme von Unica Zürn:

Hinter dieser reinen Stirne 

 

Hinter dieser reinen Stirne
redet ein Herr, reist ein Sinn,
irrt ein Stern in seine Herde,
rennt ein seid’ner Stier. Hier
der Reiter Hintersinn, seine 
Nester hinter Indien – Irr-See –
Irr-Sinn, heiter – Ente der
drei Tinten-Herrn – reisen sie
– ein Hindernis! – Retter seiner
Dinten-Herrn – Ist es eine Irre?
Ich weiss nicht, wie man die Liebe macht

 

Wie ich weiss, „macht“ man die Liebe nicht.
Sie weint bei einem Wachslicht im Dach.
Ach, sie waechst im Lichten, im Winde bei 
Nacht. Sie wacht im weichen Bilde, im Eis
des Niemals, im Bitten: wache wie ich. Ich
weiss, wie ich macht man die Liebe nicht.

 

Verwendete Literatur:

Unica Zürn: Der Mann im Jasmin/Eindrücke aus einer Geisteskrankheit. Dunkler Frühling, Ullstein-Verlag. Frankfurt/Main – München – Wien 1982

Eva-Maria Alves: Unica Zürn. In WahnsinnsFrauen. Dritter Band. Herausgegeben von Sibylle Duda und Luise F. Pusch. Suhrkamp Taschenbuch. Frankfurt am Main 1999

Ruth Henry: DIE EINZIGE. Begegnung mit Unica Zürn. Edition Nautilus, Hamburg 2007

Karoline Hille: Spiele der Frauen.  Künstlerinnen im Surrealismus. Belser-Verlag, Stuttgart 2009

 


 


 

aus WeiberZeit Nr. 26-27/Februar 2015 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
Erscheinungsweise: vierteljährlich

Herausgeberin
Weibernetz e.V. - Projekt „Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“
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