Berühmte behinderte Frauen

Virginia Woolf (1882-1941)

 

von Anneliese Mayer

 

Sie zählt zu den berühmtesten und einflussreichsten englischen Schriftstellerinnen der Moderne. Sie hat zahlreiche Briefe geschrieben, führte über Jahrzehnte hinweg Tagebuch und hatte einen nicht unbedeutenden Freundes- und Bekanntenkreis, so dass ihre zahlreichen Biografinnen und Biografen auf einen reichen Fundus zurückgreifen konnten. Nicht zuletzt sind es einige ihrer Romane und Erzählungen, durch die sie uns in verschlüsselter Form Einblicke in ihre Familie, in ihr Erleben, ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Stimmungen und in ihre Phantasien ermöglichte.

 

Adeline Virginia Stephen – so der Mädchenname von Virginia Woolf – ist am 25. Januar 1882 in einer Familie geboren, die wir heute als Patchwork-Familie bezeichnen. Ihre Mutter Julia hatte bereits drei Kinder: George, Stella und Gerald Duckworth. 1870 starb ihr erster Mann plötzlich an einer Blinddarmentzündung, und nach einer langen Trauerphase heiratete sie den Literaten und Biografen Leslie Stephen, der ebenfalls vor einigen Jahren seine Frau verloren hatte. Aus Leslies erster Ehe stammt die geistig behinderte Tochter Laura. Julia brachte ihre ersten Kinder in einem Abstand von einem Jahr auf die Welt, wie es damals üblich war. Auch in der zweiten Ehe kommen die Kinder in rascher Folge: Vanessa (1879), Thoby (1880), Virginia (1882) und Adrian (1883). Die Stephens leben zusammen mit neun Bediensteten in einem stattlichen Haus im Londoner Stadtteil Kensington. Virginia Woolf hat die Mitglieder der Familie in ihren Erinnerungen ausführlich beschrieben: Die Mutter, eine außergewöhnlich schöne Frau, von einer „eigenartigen Strenge“, die sich um das Wohlergehen anderer sorgte und immer hilfsbereit war, „einer Königin gleich, die den schmutzigen Fuß eines Bettlers aus dem Straßenkot aufhebt und ihn wäscht.“ (Zum Leuchtturm, S. 13).

 

Damit entspricht Julia Stephen vollkommen dem weiblichen Ideal des viktorianischen Zeitalters. Anders dagegen Virginias Vater, ein hochintellektueller und vielbelesener Mann, jedoch leicht reizbar. Mit zunehmendem Alter und fast ohne Gehör, entwickelt er tyrannische Züge. Bei ihren Geschwistern sind es besonders Vanessa und Thoby, zu denen sie, Virginia, sich stark hingezogen fühlt, während Adrian, der Liebling der Mutter, ihre Aufmerksamkeit kaum findet, ebenso wie die zwölf Jahre ältere Halbschwester Laura.

 

Laura, die Störende, ist auch auf keinem Familienfoto zu finden.

In ihrer frühen Kindheit hat Virginia ein Erlebnis, dass sie auch noch fünfzig Jahre später beschäftigt und entrüstet:

„Ich muß mich meines eigenen Körpers geschämt oder mich vor ihm gefürchtet haben. Eine weitere Erinnerung (…) hilft vielleicht, das zu erklären. Vor der Eßzimmertür gab es eine Konsole zum Abstellen des Geschirrs. Einmal, als ich noch sehr klein war, hob Gerald Duckworth mich darauf und begann, während ich dort saß, meinen Körper zu erforschen. Ich kann mich an das Gefühl seiner Hand erinnern, die sich unter meine Kleider schob, entschlossen und stetig tiefer vordrang. Ich erinnere mich, wie ich hoffte, er würde aufhören; wie ich mich versteifte und mich wand, als seine Hand sich meinen Geschlechtsteilen näherte. Aber er hörte nicht auf. Seine Hand erforschte auch meine Geschlechtsteile. Ich erinnere mich, daß es mir widerstrebte, daß ich es nicht mochte – wie lautet das Wort für ein so dumpfes und zwiespältiges Gefühl? Es muß intensiv gewesen sein, da ich mich noch immer daran erinnere. Es scheint zu beweisen, daß ein Gefühl bezüglich bestimmter Teile des Körpers; daß sie nicht berührt werden dürfen, daß es falsch ist, sie berühren zu lassen; instinktiv sein muß.“ (S. 129 f)1.

 

Sie wird von ihrem Halbbruder Gerald, der zum Zeitpunkt des Geschehens etwa 17 oder 18 Jahre alt gewesen sein dürfte, sexuell missbraucht und kann sich nicht dagegen wehren. Sie fühlt, dass ihr großes Unrecht angetan wurde und sie dem Ganzen ohnmächtig gegenübersteht. Eine ähnliche Situation wird sich wiederholen, nachdem ihre Mutter gestorben ist und George, der Älteste, sich in der Rolle sieht, seine jugendlichen Schwestern in die Gesellschaft einführen zu müssen. “Der Schlaf hatte mich fast eingeholt. Das Zimmer war dunkel. Das Haus still.

 

Dann ging, verstohlen knarrend, die Tür auf; mit vorsichtigen Schritten kam jemand herein. ‚Wer ist da?‘ rief ich. ‚Hab keine Angst‘, flüsterte George. ‚Und mach das Licht nicht an, oh Liebste, Liebste -‘ und er warf sich auf mein Bett und nahm mich in seine Arme. Ja, die Damen von Kensington und Belgrave ahnten nicht, daß George Duckworth nicht nur Vater und Mutter, Bruder und Schwester für diese armen Stephen-Mädchen war; er war auch ihr Liebhaber.“ (S. 66f). Von den männlichen Biografen werden diese sexuellen Übergriffe verharmlost, in dem sie kundtun, dass „die plumpen erotischen Tätschelversuche ihrer beiden Duckworth-Halbbrüder hatten sie eher verschreckt und verlegen gemacht denn aufgebaut“ (Spater/Parsons, S. 43f).

 

Wie verlief nun die Kindheit und Jugend von Virginia Stephen – abgesehen von diesen einschneidenden Erlebnissen? Da sind die unbeschwerten Sommermonate in St. Ives, die Kricketspiele, das Halb-Junge sein und das Bäumeklettern. Da sind in London die vielen berühmten Gäste, die zum Diner kommen und der Privatunterricht durch die Eltern - später wird sie bedauern, keine Schule besucht zu haben und keine gleichaltrigen Schulkameradinnen und Freundinnen da waren, während die Brüder ab einem gewissen Alter auf Internate geschickt wurden und Elite-Colleges und -Universitäten besuchten. Da sind aber auch Ereignisse, die sie beklemmen und ihr das Gefühl geben, wie von der „vorschlaghammerartigen Kraft des Schocks“ (S. 134) gelähmt zu werden. Dazu gehört das plötzliche Innehalten bei einer Balgerei mit dem Bruder, als ihr bewusst wird, wie sie ihm Schmerz zufügen kann oder das Erschrecken über den Selbstmord des Nachbarn. Dazu gehört aber auch das Grauen, „als der schwachsinnige Junge mit ausgestreckter Hand auf mich zusprang, wimmernd, mit rotgeränderten Augen“ (S. 142) und das sie hilflos macht.

 

Virginia ist dreizehn, als die Mutter stirbt. Es tauchen erstmals die Symptome auf, die sie zeitlebens bei Niedergeschlagenheit begleiten: Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen. Ihre Halbschwester Stella, die anfangs die Hausfrauenrolle übernimmt, stirbt zwei Jahre später. Virginia und Vanessa müssen sich nun allein um den fast tauben und sich selbst bemitleidenden Vater kümmern. Leslie Stephen, der an Darmkrebs erkrankt ist, stirbt 1904. Für seine Töchter ist es fast wie eine Befreiung. Im Frühjahr unternehmen die Stephangeschwister eine Reise nach Italien und suchen sich danach eine neue Bleibe. Sie finden ein Haus im Londoner Stadtteil Bloomsbury, einem Künstlerviertel.

 

Massive Schuldgefühle darüber, dem Vater gegenüber nicht gerecht gewesen zu sein, aber auch die anstehenden Veränderungen lösen bei Virginia eine Psychose aus. Sie verfällt in Halluzinationen, hört Stimmen, u.a. vom regierenden König Edward VII, der Obszönitäten in ihrem Garten von sich gebe und nimmt den Gesang der Vögel als griechischen Chor wahr. Nur mit Mühe kann man sie dazu bringen, Nahrung zu sich zu nehmen. Schließlich stürzt sie sich aus dem Fenster des Hauses einer mütterlichen Freundin, bei der sie diese krisenhafte Zeit verbringt. Den Sturz überlebt sie unbeschadet, da das Zimmer im Erdgeschoß liegt. Im Herbst geht es Virginia besser. Sie beginnt regelmäßig für den Guardian zu schreiben. Zudem hält sie wöchentlich einen Vortrag über Literatur am Morley College, einer Abendschule für Werktätige. Ihr neues Heim öffnet sich für die Studienkollegen ihres Bruders Thoby und dessen Freund Lytton Strachey und so trifft sich jede Woche der später als Bloomsbury-Group bekannt gewordene Gesprächszirkel, zu dem neben anderen die Maler Roger Fry und Duncan Grant, der Schriftsteller E.M. Forster und der Wirtschaftstheoretiker John Maynard Keynes gehören. Anfangs sind Virginia und Vanessa, die inzwischen an der Kunstakademie studiert hat und Malerin wird, die einzigen weiblichen Mitglieder.2 In ihren Diskussionen greift die Gruppe Themen auf, die bislang in ihren Kreisen ein Tabu waren, so auch das Thema Sexualität und hier besonders das der Homosexualität, da die Meisten aus der Gruppe schwul sind.1906 unternehmen die Geschwister eine gemeinsame Reise nach Griechenland und in die Türkei, bei der Thoby an Typhus erkrankt und im Spätherbst stirbt. Vanessa heiratet im Jahr darauf ein Mitglied der Bloomsbury-Group – den Kunstkritiker Clive Bell, und Virginia und Adrian übersiedeln in ein anderes Haus. Zwischen den beiden kommt es oft zum Streit, da ihre Auffassungen weit auseinandergehen. Sie unternehmen jedoch gemeinsame Reisen.

 

Von Freunden wird Virginia gedrängt zu heiraten und bekommt von ihnen entsprechende Anträge, die sie jedoch ablehnt. Einem Heiratsangebot gegenüber zeigt sie sich jedoch offen: Es kommt von dem nach sieben Jahren aus dem Kolonialdienst in Ceylon zurückgekehrten, ein Jahr älteren Leonard Woolf, der gemeinsam mit Thoby am Trinity College in Cambrigde studiert hat. Dort hatte sie ihn bereits vor Jahren kennengelernt: „Ich war natürlich erfüllt von tiefsten Interesse für diesen heftigen, zitternden3, menschenfeindlichen Juden, der der Zivilisation bereits die Faust gezeigt hatte und kurz davorstand, in die Tropen zu verschwinden, so daß keiner von uns ihn je wiedersehen würde.“ (S. 78) Es ist für Virginia sicherlich nicht die große Liebe, aber sie ahnt, dass sie in Leonard einen verlässlichen Partner findet, der ihr auch Halt geben wird. Am 16. August 1912 heiraten sie und brechen zu einer zweimonatigen Hochzeitsreise in den Süden auf.

 

Virginia Woolf steht kurz davor, ihren ersten Roman zu veröffentlichen, als sich wieder die ersten Anzeichen ihrer Krankheit zeigen. Es kommt zu starken Stimmungsschwankungen und sie hat abwechselnd manische Phasen, um nach einiger Zeit in tiefste Depressionen zu fallen. Sie kommt für einige Wochen in die Privatklinik Burley Park für geisteskranke Frauen im Süden Londons. Dort bessert sich ihr Zustand nicht. „Nachdem Leonard sie jedoch abgeholt und an den Brunswick Square (ihre Wohnung, A.M.) gebracht hatte, verschlimmerte sich ihr Zustand rapide. Mit einer Überdosis Veronal versuchte sie sich am 9. September 1913 ihrem Leben ein Ende zu machen. Eine dramatische Rettungsaktion setzte ein (…). Als sie nach zwei Tagen das Bewusstsein wiedererlangt hatte und ganz allmählich wieder zu Kräften kam, setzten die Wahnvorstellungen wieder ein.“ (Wiggershaus, S.60 f). Es werden vier Krankenschwestern eingestellt, die sie Tag und Nacht bewachen und versuchen, auf ihre Wutanfälle, Delirien und Aggressionen beruhigend zu wirken. Über die Ursache dieses heftigen psychischen Zusammenbruchs kurz nach der Heirat, gibt es unterschiedliche Spekulationen: Zum einem wird vermutet, dass für sie die sexuelle Nähe und der Beischlaf keine Befriedigung war. Auch wurde ihr von den Ärzten dringend abgeraten aufgrund ihrer psychischen Labilität Kinder zu bekommen. Zum anderen werden Gründe angeführt, wie die Unsicherheit über die Resonanz auf ihren ersten Roman „Die Fahrt hinaus“, dessen Erscheinen immer wieder hinausgeschoben wurde. Auch Kriegsangst dürfte eine Rolle gespielt haben.

 

Erst nach zwei Jahren lassen die manisch-depressiven Symptome nach. Leonard hat inzwischen eine neue Wohnung gesucht – das Hogarth House in Richmond – und eine Druckerpresse gekauft. So beginnen sie gemeinsam ihren eigenen Verlag aufzubauen, die Hogarth Press. Leonard achtet sehr genau darauf, dass seine Frau einen geregelten Tagesablauf einhält. Vormittags schreibt sie an ihren Erzählungen, Romanen, Essays oder Buchbesprechungen und am Nachmittag arbeitet sie mit ihm an der Handdruckmaschine, fügt die Setztypen ein oder bindet die Broschüren - feinmotorische Tätigkeiten, die Leonard aufgrund des Zitterns seiner Hände nicht ausführen kann. Am Abend treffen sie sich mit Freunden und Bekannten und nehmen regen Anteil am künstlerischen Leben in London nach dem Ersten Weltkrieg. In den zwanziger Jahren veröffentlicht Virginia Woolf mehrere Romane, die durchwegs hervorragende Kritiken bekommen. Sie verlässt die herkömmliche Erzählstruktur und fängt die Gefühle und Gedanken der im Mittelpunkt stehenden Personen durch innere Monologe und Stimmungsbeschreibungen des äußeren Umfelds ein, wie z.B. in „Mrs. Dalloway.“ Welche Bedeutung das Schreiben für sie hat, wird aus den Einträgen in ihr Tagebuch ersichtlich, wenn sie etwa vermerkt, dass die Melancholie abnehme, wenn sie schreibt, oder ihr „Eichhörnchenkäfiggeist sich nicht mehr dauern im Kreis dreht“. (VW, Das große Lesebuch, S. 252)

 

1922 lernt Virginia die lebensfrohe Vita Sackville-West kennen und kann sich der Bewunderung für deren adligem Umfeld und ihrem unkonventionellen Lebensstil nicht entziehen. Sie begegnen sich immer wieder und 1925 kommt es zu einer Liebesbeziehung zwischen den beiden, die jedoch von kurzer Dauer ist, denn Vita stellt fest, dass Virginia Menschen „eher mit dem Kopf als mit dem Herzen“ liebe. (zit. nach Wiggershaus, S. 110) kennen. Diese Affäre inspiriert Virginia jedoch zu ihrem bekanntesten Roman: „Orlando“.

 

Ein Erfolg nach dem anderen stellt sich ein. Sie hält Vorträge an Mädchen-Colleges, in denen sie die mangelnden Bildungsmöglichkeiten von Mädchen und Frauen anprangert und sie tut dies mit einer Portion Spott über die Gelehrtenwelt der Männer. Aber es kommen immer wieder Phasen, in denen sie Selbstzweifel befallen und sie niedergeschlagen ist, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit sie plagen. Die Woolfs haben ein Haus in Rodmell in Sussex gekauft und in der ländlichen Umgebung findet Virginia in den Sommermonaten Ruhe, Erholung und Muße zum Schreiben. Nach Ausbruch des 2. Weltkriegs ziehen sie sich fast ganz dorthin zurück. London wird einem Bombenhagel durch die Deutschen ausgesetzt. Bei Leonard und Virginia nehmen die Ängste zu, es könnte zu einer Invasion der Deutschen kommen, und Leonard ist sich klar darüber, was es für ihn als Juden bedeuten würde, in die Hände der Faschisten zu fallen. Sie beschließen, gemeinsam Selbstmord zu begehen, sollte es soweit kommen und besorgen sich Morphium. Der Winter 1940/1941 ist besonders kalt und die Rationierungen haben bereits begonnen. Virginias Nerven sind aufs Höchste angespannt; ihr letzter Roman hat keine guten Kritiken erhalten, viele Freunde sind in den letzten Jahren gestorben, das gesellschaftliche Leben ist zum Stillstand gekommen, bereits die Faust gezeigt hatte und kurz davorstand, in die Tropen zu verschwinden, so daß keiner von uns ihn je wiedersehen würde.“ (S. 78) Es ist für Virginia sicherlich nicht die große Liebe, aber sie ahnt, dass sie in Leonard einen verlässlichen Partner findet, der ihr auch Halt geben wird. Am 16. August 1912 heiraten sie und brechen zu einer zweimonatigen Hochzeitsreise in den Süden auf.

 

Virginia Woolf steht kurz davor, ihren ersten Roman zu veröffentlichen, als sich wieder die ersten Anzeichen ihrer Krankheit zeigen. Es kommt zu starken Stimmungsschwankungen und sie hat abwechselnd manische Phasen, um nach einiger Zeit in tiefste Depressionen zu fallen. Sie kommt für einige Wochen in die Privatklinik Burley Park für geisteskranke Frauen im Süden Londons. Dort bessert sich ihr Zustand nicht. „Nachdem Leonard sie jedoch abgeholt und an den Brunswick Square (ihre Wohnung, A.M.) gebracht hatte, verschlimmerte sich ihr Zustand rapide. Mit einer Überdosis Veronal versuchte sie sich am 9. September 1913 ihrem Leben ein Ende zu machen. Eine dramatische Rettungsaktion setzte ein (…). Als sie nach zwei Tagen das Bewusstsein wiedererlangt hatte und ganz allmählich wieder zu Kräften kam, setzten die Wahnvorstellungen wieder ein.“ (Wiggershaus, S.60 f). Es werden vier Krankenschwestern eingestellt, die sie Tag und Nacht bewachen und versuchen, auf ihre Wutanfälle, Delirien und Aggressionen beruhigend zu wirken. Über die Ursache dieses heftigen psychischen Zusammenbruchs kurz nach der Heirat, gibt es unterschiedliche Spekulationen: Zum einem wird vermutet, dass für sie die sexuelle Nähe und der Beischlaf keine Befriedigung war. Auch wurde ihr von den Ärzten dringend abgeraten aufgrund ihrer psychischen Labilität Kinder zu bekommen. Zum anderen werden Gründe angeführt, wie die Unsicherheit über die Resonanz auf ihren ersten Roman „Die Fahrt hinaus“, dessen Erscheinen immer wieder hinausgeschoben wurde. Auch Kriegsangst dürfte eine Rolle gespielt haben.

 

Erst nach zwei Jahren lassen die manisch-depressiven Symptome nach. Leonard hat inzwischen eine neue Wohnung gesucht – das Hogarth House in Richmond – und eine Druckerpresse gekauft. So beginnen sie gemeinsam ihren eigenen Verlag aufzubauen, die Hogarth Press. Leonard achtet sehr genau darauf, dass seine Frau einen geregelten Tagesablauf einhält. Vormittags schreibt sie an ihren Erzählungen, Romanen, Essays oder Buchbesprechungen und am Nachmittag arbeitet sie mit ihm an der Handdruckmaschine, fügt die Setztypen ein oder bindet die Broschüren - feinmotorische Tätigkeiten, die Leonard aufgrund des Zitterns seiner da sie praktisch kaum noch nach London kommen und die Zukunft lässt nichts Gutes erwarten. In dieser Situation befürchtet Virginia erneut in eine tiefe Krise zu fallen, wie sie sie vor und zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte. Sie schreibt am 28. März 1941 einen Abschiedsbrief an Leonard, kleidet sich an, verlässt Monk‘s House und spaziert zum Fluss Ouse. Dort legt sie ihren Stock nieder, nimmt einen schweren Stein auf, schiebt ihn in ihre Manteltasche und geht langsam ins Wasser4. Ihre Leiche wird abgetrieben und erst zwei Wochen später gefunden.

 

„Es ist sehr gefährlich, auch nur einen Tag lang zu leben!“, eine Feststellung, die Mrs. Dalloway in dem gleichnamigen Film von Marleen Gorris äußert, mag auch Virginia Woolfs Einstellung zum Leben gewesen sein. Dieser Gefährlichkeit konnte und wollte sie sich – im Gegensatz zu Mrs. Dalloway – nicht länger aussetzen.

 

 

Anmerkungen:

1 Zitate soweit nicht anders gekennzeichnet sind aus „Augenblicke des Daseins“

2 Später kommt Dora Carrington dazu, die sich als feministische Malerin einen Namen macht.

3 Leonard hatte ein nervöses Zittern beider Hände.

4 In der Eingangsszene des Films „The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit“ von Stephan Daldry ist dieser wahrscheinliche Ablauf eindrücklich darstellt. Virginia Woolf wird von Nicole Kidman gespielt. („The Hours“ war der ursprüngliche Arbeitstitel des Romans „Mrs. Dalloway“)

 

 

Quellen:

Nigel Nicolson: Virginia Woolf. Claassen-Verlag. München 2000

George Spater und Ian Parsons: Porträt einer ungewöhnlichen Ehe. Virginia und Leonard Woolf. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt am Main 2002. Überarbeitete Neuauflage

Renate Wiggershaus: Virginia Woolf. dtv-portrait. Deutscher Taschenbuch Verlag., München 2006

 

 


 


 

aus WeiberZeit Nr. 32/Oktober 2017 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
Erscheinungsweise: vierteljährlich

Herausgeberin
Weibernetz e.V. - Projekt „Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“
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