Berühmte behinderte Frauen
Veza Canetti (1897-1963)
von Anneliese Mayer
Sie wurde von der Frauenbewegung nicht wahrgenommen. Die Literaturwissenschaft schenkte ihr lange Zeit keine Beachtung. Auch ihr Mann, der Nobelpreisträger Elias Canetti, kam nicht von selbst auf die Idee, ihre Arbeiten zu veröffentlichen. Ihre große Rolle spielte Veza im Privaten, im Verborgenen. Und sie verbarg sich selbst. Sie verbarg ihre Behinderung, über die niemals gesprochen wurde, über die hinweggegangen wurde, die tabuisiert wurde.
Am 21. November 1897 wird Venetiana Calderon Taubner in Wien geboren. Die Mutter Rachel Calderon kommt aus Belgrad, der Vater, Hermann Taubner ist ungarischer Abstammung. Beide Eltern sind Juden.
Venetiana, die sehr bald Veza gerufen wird, ist mit einer Körperbehinderung auf die Welt gekommen. Der linke Unterarm fehlt ihr vollständig, und die Hand ist am Ellenborgen angewachsen. Inwieweit die Eltern die „Missbildung“ ihrer Tochter kaschieren oder verleugnen, ist nicht bekannt. Als Veza sechs Jahre alt ist, stirbt der Vater und ihre Mutter geht eine dritte Ehe mit dem über zwanzig Jahre älteren Kaufmann Menachem Alkaley ein. Allkaley ist ein herrschsüchtiger Mensch; Veza lernt, sich mit List zu behaupten.
Veza macht das Abitur, verbringt in ihrer Jugend einige Zeit in England und gibt privaten Sprachunterricht. Ob sie jemals als Lehrerin an einer Schule gearbeitet hat, wie sie in einem Lebenslauf für den Malik-Verlag schreibt, darf bezweifelt werden.
Am 17. April 1924 besucht der neunzehnjährige Chemie-Student Elias Canetti eine Vorlesung des legendären Schriftstellers, Sprachwissenschaftlers und Gesellschaftskritikers Karl Kraus. Dort begegnet er zum ersten Mal Veza Calderon-Taubner. In der Erinnerung daran schreibt Canetti Jahrzehnte später: „Sie sah sehr fremd aus, eine Kostbarkeit, ein Wesen, wie man es nie in Wien, wohl aber auf einer persischen Miniatur erwartet. Ihre hochgeschwungenen Brauen, ihre langen schwarzen Wimpern, mit denen sie, auf virtuose Weise, bald rasch, bald langsam spielte, brachten mich in Verlegenheit. Ich schaute immer auf die Wimpern statt in die Augen und wunderte mich über den kleinen Mund.“ Bei den fortan regelmäßigen Besuchen der Vorträge sieht Canetti sie jedes Mal aus der Ferne und beobachtet, dass sie nie in die Hände klatscht wie das übrige Publikum. Erst ein Jahr nach der ersten Begegnung wagt es Canetti, Veza anzusprechen. Er bewundert die gebildete Frau. Langsam entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Canetti besucht Veza immer häufiger in ihrer Wohnung in der Ferdinandstraße, wo Veza mit ihrer Mutter und dem Stiefvater lebt.
Die Ferdinandstraße bildet auch den Hintergrund für die Erzählungen, die Veza zu schreiben beginnt und die in den Jahren 1932 und 1933 in der Wiener Arbeiter-Zeitung veröffentlicht werden. Die Ferdinandstraße wird zur „Gelben Straße“, der Straße der Lederhändler, der kleinen Geschäftemacher, der Dienstboten und Intellektuellen. „Es ist eine merkwürdige Straße, die Gelbe Straße. Es wohnen da Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte und Satte.“ Die Rahmenfigur ist Frieda Runkel, eine verbitterte Kioskbesitzerin, die in einem Kinderwagen sitzt und wahrscheinlich Glasknochen hat.
Im Dezember 1932 veranstaltet die Wiener Arbeiter-Zeitung ein Preisausschreiben für die beste Kurzgeschichte. Die Jury findet keine der 827 Erzählungen des ersten Preises würdig. Den zweiten Preis erhält Veza für ihre Kurzgeschichte „Ein Kind rollt Geld“.
Veza Calderon-Taubner erzählt ihre Geschichten aus dem Wien der zwanziger und dreißiger Jahre mit einem beißenden Humor und mit viel Mitgefühl für das Schicksal der kleinen Leute. Sozialkritisch reflektiert sie die Ausbeutung von Frauen durch ihre Männer und die Auswirkungen der hohen Arbeitslosigkeit. Veza schreibt unter verschiedenen Pseudonymen: Veza Magd, Veronika Knecht und Martha oder Martina Murner. Angeblich befürchtet der Herausgeber der Wiener Arbeiter-Zeitung, die Bevorzugung einer jüdischen Autorin könne im zunehmend antisemitischen Wien ein schlechtes Licht auf die Zeitung werfen.
Ihre erste große Veröffentlichung hat Veza Calderon-Taubner unter dem Pseudonym Veza Magd im August 1932. Beim linken Malik-Verlag erschien die Anthologie „Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland. Junge deutsche Prosa.“ Vezas Erzählung mit dem Titel „Geduld bringt Rosen“ erzählt die Geschichte einer reichen und einer armen Familie. Auch hier begegnet uns wieder eine behinderte Figur. Den Sohn des Kassenboten Mäusle beschreibt die Erzählerin so: „Söhnchen ist zwar nicht die richtige Bezeichnung. Was auf dem Sofa lag, hatte Hände. Es war aber auch das einzige, das an einen Menschen erinnerte. Sonst hatte dieses Wesen zwei spindeldürre, gelähmte Stangen statt der Beine, einen breiten Kasten statt der Brust, ein Glatze dort, wo Haare hingehörten, ein dunkles Fell an den nackten Stellen des Körpers und schwarze Strünke an Stelle der Zähne. Die Sprache ersetzte ein nur Mäusle verständliches Lallen, und statt von Gedanken lebte dieses Geschöpf von augenblicklichen Eindrücken, die es in heftige Wut oder Freude versetzen konnten.“
1934 heiraten Veza und Elias. Ende des gleichen Jahres stirbt die Mutter von Veza (der Stiefvater ist seit sechs Jahren tot). Im Oktober 1935 erscheint das erste Buch von Elias Canetti „Die Blendung“ und die beiden beschließen, drei Zimmer in einer Villa im idyllischen Grinzing zu beziehen. Veza Canetti hat inzwischen ein Drama geschrieben – „Der Oger“ – das jedoch keine Beachtung findet.
Veza betätigt sich als Hausfrau und steckt ihre ganze Energie in ihren Mann, der psychisch sehr labil ist. Er hat Anfälle von Verfolgungswahn, glaubt, dass man ihn vergiften wolle und hat Tobsuchtsanfälle.
Hinzu kommen die permanenten Geldnöte. Und schließlich verschärft sich das politische Klima. Die Canettis als Juden geraten immer mehr in die Isolation, jüdische Freunde wandern aus, Briefe müssen verschlüsselt geschrieben werden. Im März 1938 erfolgt der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich. Nun ist es auch für Elias und Veza Canetti höchste Zeit, Wien zu verlassen. Im Oktober fliehen sie nach Paris, wo die beiden jüngeren Brüder von Elias Canetti leben.
Im Frühjahr 1939 emigrieren die Canettis nach England wo sie beide Verwandte haben. Veza schreibt den Roman „Die Schildkröten“, der von dem Schriftsteller Andreas Kain und seiner Frau Eva handelt, die in einer Villa in Wien leben und durch die zunehmenden, antisemitischen Anfeindungen gezwungen werden, zu fliehen. Mit diesem Roman versucht Veza Canetti die erlittenen Demütigungen und Ängste zu verarbeiten. Ihre Bemühungen, einen Verleger für das Buch zu finden, scheitern.
Während der Kriegsjahre in England verdient Veza Canetti ihrer beider Lebensunterhalt hauptsächlich durch Übersetzungen. Sie übersetzt zum Beispiel „Die Kraft und die Herrlichkeit“ von Graham Greene ins Deutsche. Und sie arbeitet als Lektorin. Es ist ein sehr bescheidenes Leben, das sie in England führt. Veza bereitet es auch Kummer, dass Elias Canetti schon seit langem verschiedene Geliebte hat. Veza kündigt zwar immer wieder an, ihren Mann zu verlassen, setzt dies jedoch nicht in die Tat um. Jedoch vertiefen sich bei ihr die depressiven Stimmungen.
In den vierziger Jahren schreibt sie noch zwei größere Stücke. Da keine Aussicht auf Veröffentlichung bestand, hat sie sie verbrannt. Ihre Kurzgeschichten, die sie bis 1956 schreibt, wandern in die Schreibtischschublade. In der Erzählung „Drei Viertel“ hat sie sich vielleicht mit dem Mädchen Maria ein Alter Ego geschaffen. Maria trägt einen großen Hut, den sie weit nach hinten schiebt. Der Hut soll verbergen, dass Maria einen Buckel hat. Auch Veza Canetti trug immer langärmlige Kleider und Blusen, um das Fehlen des linken Unterarms zu kaschieren.
Veza übernimmt immer mehr die Aufgabe einer Managerin für ihren Mann. Sie ist überzeugt, dass er einmal den Nobelpreis bekommen wird. Auf der anderen Seite verschlimmert sich ihre Melancholie. Sie wird lebensmüde. Elias Canetti versucht, sie aus diesen düsteren Stimmungen zu holen.
1960 erscheint „Masse und Macht“ und wird ein großer Erfolg. Den Anteil seiner Frau an diesem Werk würdigt Elias Canetti in einem Brief an seinen Bruder: „... Sie hat sich in mein Werk vollkommen eingearbeitet und ist Satz für Satz mit mir durchgegangen. Die Ratschläge, die sie mir gegeben hat, waren unschätzbar. Wo immer etwas unklar war, hat sie es gespürt und mich nicht geschont, und ihr deutsches Sprachgefühl ist von einer Feinheit und Tiefe, die mich täglich überrascht.“ Auch über ihre emotionale Verfassung schweigt er nicht: „… hat sie seelisch in einer Art Nacht gelebt. Ich bin keinen Tag von ihr weggeblieben, so wie sie mir geholfen hat, habe ich sie überwacht.“ (Brief vom 3. Juli 1959)
Elias Canetti rückt immer mehr in das öffentliche Interesse, während seine Frau sich immer mehr zurückzieht. Im April 1963 wird Veza Canetti, der es schon länger nicht gut geht und die über Herzbeschwerden klagt, in eine Londoner Klinik eingewiesen. Am 1. Mai stirbt sie in aller Stille, und Elias Canetti ist in tiefer Trauer.
Veza Canetti erlebt nicht mehr, wie im Jahr 1981 der Nobelpreis für Literatur an ihren Mann verliehen wird. 1990 wird „Die Gelbe Straße“ veröffentlicht. Ihr Drama „Der Oger“ wird 1992 in Zürich uraufgeführt und 1999 erscheint der autobiografische Roman „Die Schildkröten“. Das bislang letzte Buch beinhaltet den Briefwechsel zwischen ihr, Elias und George Canetti. Der private Nachlass von Elias Canetti darf laut Canetti erst 2024 für die Öffentlichkeit frei gegeben werden. Vielleicht erfahren wir dann etwas mehr über Veza Canetti.
Quellen:
Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Frankfurt am Mai 1981
Veza Canetti: Die Gelbe Straße. Roman-Verlag, München 1990
Veza Canetti: Geduld bringt Rosen. Erzählungen,
Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main 1994
Veza Canetti: Der Fund. Dtv, München 2004
Veza & Elias Canetti: Briefe an Georges. Hanser Verlag, München 2006
aus WeiberZeit Nr. 18/Dezember 2009 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
Erscheinungsweise: vierteljährlich
Herausgeberin
Weibernetz e.V. - Projekt „Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“
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