Berühmte behinderte Frauen 

Rosemary Kennedy (1918-2005) 

 

von Anneliese Mayer 

 


 

Keine andere Familie verkörpert so stark den amerikanischen „way of life“ wie die Kennedys. Aus armen irischen Einwanderern wurde innerhalb von drei Generationen eine millionenschwere Familie, die die US-amerikanische Politik bis heute noch beeinflusst. Die Kennedys setzen bis in die jüngste Vergangenheit auf Stärke und Durchsetzungskraft. Ihre Schwächen haben sie immer versucht unter den Teppich zu kehren. Was dies für ein „schwaches“ Familienmitglied bedeutet, zeigt die Lebensgeschichte von Rosemary Kennedy. 

 

Am 13. September 1918 kommt das erste Mädchen in der kinderreichen Familie von Joseph und Rose Kennedy in Brookline, Massachusetts auf die Welt. Sie erhält den Taufnamen Rose Marie. In der Familie wird sie Rosie gerufen und in der Öffentlichkeit tritt sie später als Rosemary in Erscheinung. Ihr um ein Jahr älterer Bruder, John F. Kennedy, wird 42 Jahre später der 35. Präsident der USA. Mit ihren vier Schwestern und vier Brüdern wächst Rosemary in wohlhabenden Verhältnissen auf. Die Mutter ist die Tochter des Bostoner Bürgermeisters John F. Fitzgerald und ihr Mann Joseph macht als erfolgreicher Unternehmer und Finanzmagnat Karriere. Der Reichtum der Familie vermehrt sich stetig in den zwanziger Jahre durch Spekulationen, Alkoholimporte, Einstieg in das Filmgeschäft und geschicktes Taktieren während des Börsenkrachs. 

 

Ebenso wie ihre Geschwister wird Rosemary von ihrer Mutter, aber hauptsächlich von ihrem Kindermädchen erzogen. Es fällt auf, dass sie in allem etwas langsamer ist. Sie lernt später gehen, später sprechen, später alleine essen. In der Schule lernt sie sehr langsam lesen und schreiben. Alle Bemühungen, sie durch privaten Einzelunterricht zu fördern, stoßen auf die Grenzen bei Rosemary – sie hat kognitive Einschränkungen. Diese werden in der Kennedy-Familie, die sehr auf Leistung orientiert ist, ständig ignoriert. Bei den Kennedys herrscht die Lebenseinstellung: „Für Schwäche ist kein Platz – der Gedanke, dass nicht alles machbar, erreichbar ist, wenn man es nur richtig anstellt, wird nicht zugelassen. Wenn man aber nicht umhin kann, sich selbst eine Schwäche einzugestehen, so darf sie auf keinen Fall gezeigt werden.“ (Posener S. 17) Diese Grundhaltung stellt auch ihren Bruder John F. auf eine harte Bewährungsprobe – als Kind hat er häufig Schmerzen und verbringt lange Zeit immer wieder im Krankenhaus. 

 

Während die im katholischen Glauben verwurzelte Mutter ihre heranwachsende Tochter Rosemary so normal wie möglich behandelt und sie in alle Freizeitaktivitäten einbezieht, hält sich der Vater auf kühler Distanz. Rosemary ist mittlerweile 15 Jahre, eine unauffällige junge Frau. Wenn jedoch Aussenstehende mit ihr reden, merken sie, dass eine ernsthafte Unterhaltung sie überfordert. „Sie sprach wie eine Zehnjährige und war immer am Plappern.“ (Collier/Horowitz S.68) 

 

Sie besucht die Sonderschule im katholischen HeiligHerz-Kloster auf Rhode Island und schreibt Briefe an die Familie, unterstützt von den Nonnen. So bedankt sie sich in einem Brief für den Besuch des Vaters: „Lieber Daddy, ich hatte eine schöne Zeit Samstag. Ich danke Dir so sehr, dass Du gekommen bist und mich besucht hast. Sonntag hatte ich auch eine gute Zeit. Ich würde alles tun um Dich so glücklich zu machen. Ich hasse es, Dich in irgendeiner Weise zu enttäuschen. ...“ (ebd.) 

 

Von 1936-38 schreibt Rosemary Tagebuch. Sie schildert darin ihre Unternehmungen: Besuche von Tanzveranstaltungen, Nachmittage im Weißen Haus bei Präsident Roosevelt, Kleideranproben, etc. Alles Ereignisse, die das Leben einer jungen Frau aus gutem Haus ausfüllen können. Im Dezember 1937 wird ihr Vater zum amerikanischen Botschafter für Großbritannien ernannt und die Familie zieht nach London. Auch hier sieht man Rosemary bei offiziellen Anlässen: Beim Besuch der englischen Königsfamilieoder bei einer Papstaudienz im Vatikan. Der Öffentlichkeit wird mitgeteilt, dass Rosemary Kennedy als Lehrerin in einer Montessori Schule arbeiten würde und auch dort in einem Vorort von London lebt. 

 

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schickt Joseph Kennedy, der immer eine Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler vertreten hat, seine Frau mit den kleineren Kindern in die USA zurück – nur Rosemary lässt man vorerst noch zurück. Sie wird erst im Oktober 1940 die Reise über den Atlantik gemeinsam mit dem Vater antreten. Inzwischen hat sich die junge Frau in ihrem Wesen verändert. Sie ist aggressiv, bekommt häufig Wutausbrüche und hysterische Anfälle. Nun lässt sich eine Behinderung nicht mehr verstecken. Erklärt wird Rosemarys Verhalten mit einer verspäteten Pubertät und den damit verbundenen hormonellen Veränderungen. [Die nun nicht zu bändigenden Ausbrüche nur allein darin zu sehen, halte ich ein wenig für zu kurz gegriffen. Noch niemand hat sich Gedanken gemacht, was es wohl für eine Frau mit kognitiven Einschränkungen bedeuten kann, die in wohlbehüteten Verhältnissen aufgewachsen ist, wenn sie unvorbereitet den Krieg erlebt. Rosemary Kennedy muss noch in London gewesen sein, als die deutsche Luftwaffe im September 1940 die Stadt mit einem verheerenden Bombenhagel – genannt „The Blitz“ – überschüttete.] Eine weitere Ursache für Rosemarys Aggressionen ist die Abwehr der an sie gestellten Leistungsnachweise. „In dem Wettbewerb von Brillanz und Hartnäckigkeit aber konnte sie nicht mithalten; auch am gesellschaftlichen Leben, wie Kick und Eunice (ihre Schwestern) es führten, teilzunehmen und mit jungen Männern auszugehen, lag außerhalb ihrer Möglichkeiten. Das verwirrte und verängstigte sie.“ (Collier/Horowitz S. 127) 

 

Große Sorgen bereitet Joseph Kennedy die Vorstellung, dass seine älteste Tochter ein „ungezügeltes Sexualleben“ führen und ungewollt schwanger werden könnte. Dass er selbst und seine Söhne ständig Affären haben, gehört zu ihrer Vorstellung von Männlichkeit. Den Frauen der Familie werden sexuelle Avancen nicht gestattet. Um Rosemarys Gewaltausbrüche wieder unter Kontrolle zu bekommen, wendet sich Joseph Kennedy an einen Freund. Walter Freeman ist Neurochirurg in Washington und begeistert von einer neuen operativen Methode, die bei psychisch kranken Menschen eine Gemütsberuhigung herstellen soll. Die Lobotomie ist ein Eingriff, bei dem Nervenbahnen, welche die Stirnlappen mit dem Rest des Gehirns verbinden, durchtrennt werden. Ohne Wissen seiner Frau bringt Joseph Kennedy seine Tochter 1941 in die Klinik. Die Operation wird durchgeführt und alle positiven Voraussagen erweisen sich als unzutreffend. Rosemary ist völlig apathisch, kann nicht mehr sprechen und ist von nun an pflegeabhängig. Sie ist nun tatsächlich „geistig behindert“. Bereits damals warnten Fachleute vor dieser Hirnoperation, weil sie in vielen Fällen das Gefühlsempfinden der Patientinnen und Patienten zerstört und abstraktes Denken praktisch vernichtet wird. 

 

Anfangs wird Rosemary noch in eine Klinik in New York gebracht. Als sich jedoch herausstellt, dass keine Besserung ihres körperlichen und geistigen Zustandes zu erwarten ist, wird sie endgültig von der Familie Kennedy abgeschoben. Bis zu ihrem Tod wird sie in einem Pflegeheim in Wisconsin leben. Die offizielle Verlautbarung für die Öffentlichkeit besagt anfangs, dass Rosemary als Lehrerin an der katholischen Privatschule St. Coletta (in dessen Kloster sie tatsächlich 57 Jahre gepflegt wird) tätig sei. Später erklärt ihr Bruder als Präsident, sie sei an einer Gehirnhautentzündung erkrankt und lebe in der Klinik. Die Lobotomie wird jahrzehntelang verschwiegen. Während der Zeit ihres Heimaufenthalts wird sie nur selten besucht: Die Mutter und die Schwester schauen hin und wieder vorbei, die Brüder selten - der Vater nie. 

 

Am 7. Januar 2005 stirbt Rosemary Kennedy im Alter von 86 Jahren. 

 

Noch zu Rosemarys Lebzeiten zeigt sich die Ironie des Schicksals: Joseph Kennedy, der sportliche und erfolgreiche Selfmade-Man, bekommt im Dezember 1961 mit 73 Jahren einen schweren Schlaganfall. Er ist nunmehr auf Pflege angewiesen, kann nicht mehr artikuliert sprechen und sitzt im Rollstuhl. Er verschwindet genauso wie seine Tochter aus der Öffentlichkeit. Man sieht ihn weder auf der Beerdigung seines ermordeten Sohnes John F. 1963 noch auf der seines ebenfalls ermordeten Sohnes Robert fünf Jahre später. Auch seine Frau Rose bekommt mit 93 Jahren einen Schlaganfall. Sie wird noch 11 Jahre in „geistiger Umnachtung“, aber bei bester Pflege auf dem Familiensitz der Kennedys in Hyannis Port leben. 

 

Rosemarys Schwestern Eunice und Jean scheinen das soziale Gewissen des Kennedy-Clans zu sein. Eunice Kennedy Shriver lud 1962 geistig behinderte Kinder und Erwachsene zu einem Sommercamp ein und gab damit den Startschuss für die Special Olympic World Games, die erstmals 1968 in Chicago stattfanden. Und Jean Kennedy Smith, die Jüngste und einzig noch lebende Schwester von Rosemary gründete „Very Special Arts“, eine NonProfit-Organisation, die die künstlerische Begabung behinderter Kindern fördern soll. 


 

Quellen: 

Peter Collier/David Horowitz: Die Kennedys – Ein amerikanisches Drama. Berlin 1985 

Alan Posener: John F. Kennedy. Rororo Monographie. Reinbek bei Hamburg 1991 

Jeanne Rubner: Das Mädchen Rosemary. Die verschwundene Kennedy-Schwester. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. Mai 2009 

https://www.jfklibrary.org

http://en.wikipedia.org/wiki/Rosemary_Kennedy 

 


 


 

aus WeiberZeit Nr. 23/Februar 2013 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
Erscheinungsweise: vierteljährlich

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