Berühmte behinderte Frauen

Perla Ovici (1921–2001)

 

Anneliese Mayer

 

Gelesen hatte ich zum ersten Mal über sie im März 2000. Gesehen habe ich sie danach auf der Leinwand, als auf der Sommeruni 2003 in Bremen der Film „Liebe Perla“ von Shahar Rozen vorgestellt wurde – zu dem Zeitpunkt war sie bereits gestorben. Bis dahin erschien es mir unmöglich, dass jemand mit einer Behinderung das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt haben könnte - noch viel weniger die grausamen Menschenversuche eines KZ-Arztes wie Josef Mengele. Ihre (Über-)Lebensgeschichte zeigt, dass es gerade ihre Kleinwüchsigkeit war, die sie vor dem sicheren Tod in der Gaskammer bewahrt hat. Das Leben von Perla Ovici kann nicht allein erzählt werden. Es ist vielmehr eine Geschichte von zehn Geschwistern.

 

Perla Ovici wurde am 10. Januar 1921 als Jüngste von 10 Geschwistern in einem Dorf in Siebenbürgen geboren. Ihr Vater kam 1868 als drittes Kind einer jüdischen Bauernfamilie auf die Welt und fiel dadurch auf, dass er nur einen Meter groß wurde. Shimshon Eizik Ovici wurde Wanderrabbiner und Badchin (ein Unterhalter bei Dorffeierlichkeiten, der Geschichten erzählt, Späße treibt und das Publikum mit Musik bei Stimmung hält – heute würde man ihn als Animateur bezeichnen!). Shimshon heiratete die gleichaltrige „große“ Brana Fruchter und hatte mit ihr zwei Töchter, die ebenso wie der Vater klein-wüchsig waren: die Älteste Rozika wurde 1886 geboren und Franceska 1889. Nachdem seine erste Frau im Alter von 33 Jahren an Tuberkulose verstarb, suchte sich der Rabbiner rasch eine neue „große“ Frau. Batia-Bertha Husz wurde die Mutter seiner sieben weiteren Kinder, die in Abständen von zwei bzw. ab 1911 von drei Jahren auf die Welt kamen. Avram war 1903 der erste, gefolgt von Frieda, Sarah, Mordechai (gen. Micky), Leah, Elisabeth, Ariel und zum Schluß Perla. Außer Sarah, Leah und Ariel waren alle kleinwüchsig.

 

Der Vater starb, als Perla zweieinhalb Jahre alt war. Die Mutter und die drei ältesten Geschwister sorgten für den Lebensunterhalt der Familie. Die Kinder hatten das künstlerische Talent des Vaters geerbt und traten anfangs als Klezmergruppe auf. 1930 starb die Mutter und der Zusammenhalt der Geschwister verfestigte sich. Die angeheirateten EhepartnerInnen der Älteren wurden in den Familienverband integriert. Perla erlebte eine unbeschwerte Kindheit und Jugend und fühlte sich aufgrund der Behinderung nie als Außenseiterin: „Die enge Gemeinschaft mit meinen Geschwistern bewahrte mich aber davor; mich minderwertig zu fühlen, und half mir, mich zu akzeptieren wie ich bin. Auch in meinem Träumen wurden meine Beine und Arme nicht länger, und ich hatte nie die Phantasie von einer guten Fee, die kommen würde, um meine Größe zu verdoppeln.“

 

In den dreißiger Jahren hatten sich die Geschwister im Kleinkunstgeschäft etabliert. Die sieben „kleinen“ Geschwister traten als „Trupa Liliput“ auf die Bühne und boten ein abwechslungsreiches Programm an Liedern und Sketchen. Ihre „großen“ Schwestern unterstützten sie hinter der Bühne. (Ariel, der „große“ Bruder, war inzwischen seine eigenen Wege gegangen und wollte vom Showgeschäft nichts wissen.)

 

Die „Trupa Liliput“ hatte großen Erfolg und tourte durch Osteuropa. 1940 wurde Siebenbürgen an das mit den Nazis kollaborierende Ungarn angeschlossen. Die Familie Ovici musste sich in Budapest registrieren lassen und da sie nicht extra gefragt wurden, ob sie Juden wären, sahen sie keine Veranlassung, die Behörden darauf aufmerksam zu machen. Dadurch stand in ihren Papieren kein Hinweis auf ihren Glauben. Sie waren keinen Repressalien ausgesetzt, als sie weiter umherzogen – bis zum Frühjahr 1944, als die großen Deportationen der ungarischen Juden begannen. Am 19. Mai kam die Familie Ovici mit ihren Verwandten und engsten Vertrauten nach einer fünftägigen Fahrt im Viehwaggon in Auschwitz-Birkenau an. Die Soldaten, die an der Rampe standen und die Selektion vornahmen, holten die kleinwüchsigen Geschwister aus der Menge und führten sie zu Dr. Mengele, der begeistert war, als er die Gruppe vor sich sah. Der Arzt, der bekannt für seine Forschungen an Zwillingen war, konnte sich nun – ehrgeizig wie er war – einem neuen Projekt der Erblehre zuwenden. Der „Todesengel von Auschwitz“ sorgte dafür, dass seine „Versuchskaninchen“ verhältnismäßig gut untergebracht wurden. Anders als die anderen LagerinsassInnen durften sie ihre eigene Kleider tragen und – was für die Ovici-Frauen immer sehr wichtig war – sie konnten sich schminken. Sie bekamen ausreichend Nahrung, die aber keine Extras zur üblichen Lagerkost darstellte.

 

Fast täglich wurden die Geschwister ins Labor gefahren und mussten die qualvollsten Untersuchungen und Experimente über sich ergehen lassen. Es wurde ihnen literweise Blut abgenommen. Sie mussten ständig Messungen und Röntgenuntersuchungen über sich ergehen lassen. Rückenmarksproben wurden entnommen und in ihre Augen wurde eine Flüssigkeit getröpfelt, die sie stundenlang erblinden ließ. Den EhepartnerInnen wurden entwürdigende Fragen über Intimitäten gestellt. Eines Tages wurden alle sieben kleinwüchsigen Geschwister in einen Saal geholt, in dem sich eine Gruppe von SS-Offizieren versammelt hatte. Sie mussten sich nackt ausziehen und Mengele zeigte mit einem Stab auf ihre Körperteile und gab Erläuterungen ab. Mengele war stolz auf seine „Zwerge“ und zeigte sie überall vor. Für die Frauen und Männer waren diese Veranstaltungen sehr demütigend. 

 

Die Geschwister Ovici verbrachten ein dreiviertel Jahre in Auschwitz-Birkenau. Am 27. Januar 1945 wurde das Todeslager durch die Rote Armee befreit. Die Ovici’s machten sich mit ihren Angehörigen auf den beschwerlichen Weg zurück in ihre Heimat. Sie konnten oft nicht weiterziehen und hatten längere Aufenthalte in Lagern. Sie begannen unverzagt wieder ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in dem sie die Menschen mit Gesang und Schauspiel unterhielten. Als sie nach sieben Monaten endlich in ihrem Dorf ankamen, mussten sie feststellen, dass ihr Haus von fremden Leuten bewohnt wurde. Sie beschlossen 1947 nach Belgien zu gehen und die „Trupa Liliput“ wieder aufleben zu lassen. Aber auch dort konnten sie als orthodoxe Jüdinnen und Juden nicht heimisch werden. 1949 wanderten sie wie viele andere Überlebende nach Israel aus und siedelten sich in Haifa an. Die Geschwister blieben auch weiterhin zusammen. Anfangs wurde ihre Show als eine Attraktion in Israel gefeiert, aber allmählich verlor sich das Interesse des Publikums an ihren Aufführungen. 

 

Ab Mitte der fünfziger Jahre begannen die Geschwister ein Kino in der Innenstadt von Haifa zu betreiben. Elisabeth und besonders Perla, als die Jüngsten konnten noch miterleben, wie Mitte der achtziger Jahre das Interesse an ihrem Schicksal in Auschwitz-Birkenau wach wurde. Hatte sie vierzig Jahre niemand nach ihren Erlebnissen im KZ gefragt, wurde das Schweigen nun gebrochen. Die Opfer glaubten jahrzehntelang, sich für das, was mit ihnen geschehen war, schämen zu müssen. Die sich als große Gruppe zu Wort meldeten, waren die sogen. „Mengele-Zwillinge“. In diesem Zusammenhang traten auch Elisabeth und Perla auf. Perla Ovici hat oft als Zeitzeugin ihre Erlebnisse vor israelischen SchülerInnen berichtet.

 

Aber erst durch die Forschungen einer Frau aus der deutschen Behindertenbewegung ist Perla Ovici auch außerhalb Israels bekannt geworden. Hannelore Witkofski lernte Perla Ovici kennen, nachdem sie die Gedenkstätte Auschwitz besucht hatte und im dortigen Archiv die Geschichte über medizinische Versuche an kleinwüchsigen Menschen recherchierte. Daraufhin schrieb Hannelore nach Jerusalem an die Gedenkstätte Yad Vashem und bekam Antwort. Sie besuchte Perla Ovici 1995 zum ersten Mal und zwischen beiden Frauen entwickelte sich eine intensive Freundschaft, die erst durch den Tod von Perla Ovici am 9. September 2001 endete.

 

Anneliese Mayer

 

Der Film „Liebe Perla“ .von Shahar Rozen (1999) dokumentiert die (vergebliche) Suche nach den Filmaufnahmen, die von den Ovici-Geschwistern gemacht wurden, als Mengele sie im September 1944 den SS-Offizieren präsentierte. Der Film zeigt die Verfolgung jüdischer Menschen, die auch behindert waren und thematisiert die Fortsetzung des damaligen eugenischen Denkens heute u.a. in der Pränatalen Diagnostik.

 

Süddeutsche Zeitung vom 16. März 2000: Der Teufel hat sie gerettet – Perla Ovitz, Haifa: Wie eine kleinwüchsige Jüdin Auschwitz überleben konnte.

 

Yehuda Koren/Eilat Negev: Im Herzen waren wir Riesen. Die Überlebensgeschichte einer Liliputanerfamilie. Berlin 2004

 

 


 

aus WeiberZeit Nr. 7/April 2005 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
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