Berühmte behinderte Frauen

Harriet Martineau (1802 – 1876) 

 

von Anneliese Mayer

 

Es ist mir ein Rätsel, weshalb ihre (Auto-)Biografie nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Auch ihre zahlreichen Beiträge zur Nationalökonomie und ihre Bücher sind heute in deutscher Sprache nicht mehr vorzufinden(Zwischen 1834 und 1858 wurden unmittelbar nach dem Erscheinen einige ihrer Bücher ins Französische und Deutsche übersetzt, z. B. „Erläuterungen zur Staatswirtschaftslehre“ 1834 und „Die Gesellschaft und das sociale Leben in Amerika“ 1838) - bis auf eine Ausnahme. Seit 2013 wird zwar eine Sammlung ihrer Aufsätze unter dem Titel. „Ich bin eine Radikale und als solche bekannt“ von einem kleinen deutschen Verlag angekündigt. Dieses Buch ist jedoch bis dato nicht erschienen. Dabei gilt sie als erste Soziologin.

 

Harriet Martineau wird am 12. Juni 1802 als sechstes von acht Kindern in der ostenglischen Kleinstadt Norwich geboren. Norwich ist in dieser Zeit für seine Webereien und dem Handel mit Stoffen bekannt. Von daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Harriets Vater, Thomas Martineau, ein angesehener und wohlhabender Textilfabrikant ist, der eine Tochter aus gutem Haus, Elizabeth Rankin, geheiratet hat. Der Großvater väterlicherseits war als Hugenotte aus Frankreich geflohen und hatte in England eine neue Heimat gefunden.

 

In ihrer Autobiografie beschreibt Harriet ihre Kindheit als sehr schwer. Ihr Geruchs- und Geschmackssinn ist stark eingeschränkt und im Alter von 12 beginnt ihre Schwerhörigkeit, die sich mit den Jahren verstärken wird. Als Hilfsmittel benutzt sie ein Hörrohr. Das Verhältnis Harriets zu ihrer Mutter ist sehr angespannt. Sie scheint eine distanzierte, auf gutes Benehmen und Äußerlichkeiten Wert legende Frau zu sein, die ihren Kindern mit Gefühlskälte begegnet. Die Kinder werden von einer Gouvernante versorgt, die dem Alkohol nicht abgeneigt ist. Auf der einen Seite wird viel Wert auf die Bildung der Kinder gelegt, auf der anderen Seite wird darauf geachtet, dass die Mädchen Fähigkeiten erlernen, die typisch weiblich sind. So bekommt Harriet zwar die gleiche Schulbildung, erlernt fünf Sprachen (Griechisch, Latein, Italienisch, Französisch und Deutsch) und ist sehr belesen, jedoch ist ihr der Besuch einer Höheren Schule(Das änderte sich erst 1848 mit der Gründung des Queens College und das Bedford College in London) im Gegensatz zu ihren Brüdern verwehrt. Sie soll nun statt dem Schreibstift die Nähnadel in die Hand nehmen.

 

Der Stift wird jedoch ihr Arbeitsgerät, und so verdient sie zukünftig mit dem Schreiben ihren Lebensunterhalt. 1821 erscheinen – noch anonymisiert - ihre ersten Artikel im „Monthly Repository“. Insgesamt wird sie über 100 Artikel in diesem Periodikum der Unitarier (Anhänger einer freien, pantheistisch und humanistisch ausgerichteten Religionsgemeinschaft) veröffentlichen.

 

Harriet hat eine sehr enge Beziehung zu ihrem Bruder James, mit dem sie ihre Gedanken austauscht und der sie auch bei ihren späteren Veröffentlichungen unterstützt.

 

Mit 24 Jahren verlobt sie sich mit einem Studienfreund von James, hat jedoch Bedenken, ob eine traditionelle Ehe der richtige Weg für sie ist. Dieser Konflikt löst sich jedoch von selbst. Ihr Verlobter stirbt nach einer Erkrankung. „Als junge Frau mit feministischen Neigungen erkannte sie, dass ihr Wunsch zu schreiben und sich in den öffentlichen Diskurs über alle möglichen Themen einzumischen im Kontext von Ehe und Mutterschaft nicht erfüllt werden könnte. Jahre später äußerte sie die Meinung, dass sie ‚die glücklichste unverheiratete Frau Englands’ sei.“ (Hoecker-Drysdale, Susan, S. 33)

 

Ihr erstes großes Projekt startet sie mit der Reihe „Illustrations of Political Economy“. Es erscheint zuerst im Februar 1832 in einer Auflage von 1500 Exemplaren, was sich auf 10000 erhöhen wird. Sie beschäftigt sich darin mit den Gesetzen des freien Marktes nach Adam Smith ebenso wie mit den Prinzipien der Politischen Ökonomie von Produktion, Konsum etc. Dabei ist es ihr wichtig, in einer allgemein verständlichen Sprache zu schreiben, da sie beabsichtigt, mit ihren Ausführungen nicht nur eine bestimmte gesellschaftliche Schicht anzusprechen, „weil wir sicher sind, dass alle Schichten die gleiche Beziehung zur Wissenschaft haben, und wir fürchten, dass sie dem Großteil der einen Schicht ebenso wenig vertraut ist wie der anderen.“ (Hoecker-Drysdale, Susan, S. 34) Auch die Theorien über die Bevölkerungspolitik, die Thomas Malthus entwickelt hat, finden weitgehend ihre Zustimmung. Sie plädiert für sexuelle Enthaltsamkeit und späte Heirat.

 

Nach Abschluss dieses Projekts begibt sie sich 1834 auf eine Reise nach Amerika, die zwei Jahre dauern wird. Die Beobachtungen, Gespräche und Erkenntnisse, die sie bei ihrer Reise durch die Staaten gewinnt, finden sich in ihren beiden wohl bekanntesten Büchern „Society of Amerika“ und „How to Observe Morals and Manners“. In ihrer (soziologischen) Erforschung des Lebens in Amerika stellt sie einen Vergleich zwischen den Normen, Werten und Regeln der amerikanischen Gesellschaft und dem realen Leben an – also einen Vergleich zwischen Theorie und Praxis. Ihre Methoden sind heute in der Wissenschaft anerkannt: Feldforschung, teilnehmende Beobachtung, Interviews. Sie reist nicht allein. Als Begleiterin und Forschungsassistentin hat sie Louisa Jeffrey dabei, die ihre Schwerhörigkeit kompensiert.

 

Bereits 1832 war Harriet Martineau nach London umgezogen. Nun findet sie schnell Zugang zu den intellektuellen Kreisen. Zu ihren Bekannten zählen u.a. George Eliot, Elizabeth Barrett Browning, Thomas Malthus, John Stewart Mill und Charles Darwin. Zwischen Darwins Bruder Erasmus und ihr scheint sich ein Liebesverhältnis anzubahnen, dass jedoch von Darwin Senior unterbunden wird, da er keine Radikale als Schwiegertochter haben möchte. In einem Brief an Charles Darwin hat seine Schwester, die Harriet und ihre Schriften sehr bewunderte, sie als „große Londoner Gesellschaftslöwin“ bezeichnet. Ihr großes Engagement gegen die Unterdrückung von Frauen, ihr Einsatz für die Mädchenbildung und für die Abschaffung der Sklaverei ist allen bekannt. In John Stewart Mill hat sie dabei einen unbeugsamen Mitstreiter.

 

1839 befindet sich Harriet auf einer Reise durch Italien, als sie schwer erkrankt. Sie kehrt nach England zurück und ihr Schwager, ein angesehener Arzt, diagnostiziert bei ihr einen Unterleibstumor. Er prognostiziert ihr noch eine Lebenserwartung von fünf Jahren. Sie wird anfangs von ihrer Mutter und dann von einer Pflegerin versorgt. Zur Linderung ihrer Schmerzen nimmt sie Opiate. Aber während dieser Zeit ist sie nicht untätig. Sie schreibt Kinderbücher und das weit unterschätzte Buch „Life in the Sickroom“. Hier thematisiert sie das Arzt – Patienten –Verhältnis und verweist darauf, dass die Patientin oder der Patient niemals die Kontrolle über ihr Leben (oder ihre Krankheit) abgeben darf. Sie vertritt damit eine Position, die erst über 100 Jahre später mit dem Begriff „Der mündige Patient“ Zugang in die medizinische Wissenschaft finden wird. Die Kritiken, die sie für dieses Buch bekommt, sind deshalb auch niederschmetternd. Der Tenor lautet: „Eine kranke Person kann kein gesundes Buch schreiben“.

 

Übrigens widmet Harriet Martineau „Life in the Sickroom“ Elizabeth Barrett (siehe letzte Ausgabe der WeiberZEIT).

 

Die Prognose, die ihre Lebenserwartung auf fünf Jahre festlegte, bewahrheitet sich nicht. Dass es ihr wieder besser geht, glaubt sie einer alternativen Heilmethode zu verdanken: dem Mesmerismus (Von Anton Mesmer im 16. Jahrhundert entwickelte Behandlung mit Handauflegen und Hypnosetechniken. Auch als „animalischer Magnetismus“ bezeichnet, wird davon ausgegangen, dass eine dem Elektromagnetismus ähnliche Kraft auch zwischen Heiler und Patient bestünde. Mesmer hat seine umstrittene Methode selbst bei der blinden Komponistin Maria Theresia von Paradis angewendet). Diese Methode wird gerade von ärztlicher Seite mit großer Skepsis betrachtet, und Harriet verteidigt sie in ihren „Letters on Mesmerism“, einer Artikelserie, in denen sie ihre Erfahrungen und die Behandlungserfolge schildert. Damit löst sie eine heftige öffentliche Diskussion aus. Ob tatsächlich der Mesmerismus ihr den Heilerfolg brachte, ist heute schwer zu beantworten. Jedenfalls lässt Harriet, die sich wieder bei Kräften fühlt, für sich 1845 ein eigenes Haus in Ambleside im nordenglischen Lake District bauen, dem sie den Namen „The Knoll“ gibt. 

 

Inzwischen ist sie fast ganz gehörlos geworden. Das hindert sie jedoch nicht, weiterhin Reisen zu unternehmen. Sie ist sowohl in England und Irland unterwegs, als auch im Nahen Osten. Mit Freunden reist sie sieben Monate durch Syrien, Palästina und Ägypten. Dabei beschäftigt sie sich mit den drei großen Religionen. In dem Buch „Eastern Life, Present and Past“ vertritt sie die Meinung, dass Judentum, Christentum und Islam aus der ägyptischen Religion entstanden sind. Sie glaubt an den Fortschritt des Glaubens und dass er immer neue Formen annimmt, so dass er sich letztendlich zum Humanismus entwickelt hat.

 

Zurück in Ambleside gibt sie im Winter Kurse für Arbeiter und betreibt eine kleine Landwirtschaft. Und da sie immer noch Berufsschriftstellerin ist, veröffentlicht sie weiterhin: Romane, Reiseschilderungen, Essays und regelmäßig Leitartikel für die Londoner Zeitung „Daily News“. Sie schreibt aber auch für Charles Dickens Wochenmagazin „Household Words“. Hier befasst sie sich neben dem Frauenthema mit dem Thema „Invalide“ (damals die Bezeichnung für Behinderte). 1853 erscheint ihre freie Übertragung von Auguste Comtes (Auguste Comte gilt offiziell als Begründer der Soziologie. Er war vier Jahre älter als Harriet Martineau) „Cours de philosophie positive“ ins Englische.

 

1856 bekommt sie vermeintliche Herzbeschwerden, die befürchten lassen, dass der Unterleibstumor doch noch vorhanden ist und wächst. Sie wird von ihren beiden Nichten Maria und Jenny gepflegt. Nach zehn Jahren muss sie das Schreiben aufgeben. Sie beendet noch ihre Autobiografie, die auf ihren Wunsch hin erst nach ihrem Tod veröffentlicht wird. Weiterhin ist sie eine Frau, die politischen Einfluss nimmt. Sie unterzeichnet beispielsweise eine Petition an das Londoner Parlament, in der das Frauenwahlrecht gefordert wird.

 

Es ist nicht der Tumor, an dem Harriet Martineau im Alter von 74 Jahren am 27. Juni 1876 bei sich zuhause stirbt, sondern eine Bronchitis.

 

 

Quellen:

Susan Hoecker-Drysdale: Harriet Martineau 1802 – 1876 Kritische Sozialforschung: Theorie und Praxis. In: Claudia Honegger und Theresa Wobbe (Hrsg.): Frauen in der Soziologie. Neun Porträts. Becksche Reiche. München 1998

https//en.wikipedia.org/wiki//Harriet_Martineau

https//de.wikipedia.org(wiki/Harriet_Martineau

 


 


 

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die ungekürzte Rohfassung des in der WeiberZeit Nr. 29 veröffentlichten Beitrag.

aus WeiberZeit Nr. 29/Dezember 2015 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
Erscheinungsweise: vierteljährlich

Herausgeberin
Weibernetz e.V. - Projekt „Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“
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