Berühmte behinderte Frauen
Clara Haskil (1895-1960)
Pianistin
von Anneliese Meyer
Auf der Gedenkveranstaltung vier Monate nach ihrem plötzlichen Tod hielt unter anderem Charlie Chaplin eine Ansprache. In seiner Rede behauptete Chaplin, er sei in seinem Leben drei Genies begegnet, wobei sie an erster Stelle stünde, gefolgt von Albert Einstein und Winston Churchill. Chaplin und sie haben sich in den fünfziger Jahren kennen gelernt und angefreundet, als beide in dem Städtchen Vevey am Genfer See ihren festen Wohnsitz errichteten. Wer ist diese Frau, über die der Schauspieler so voller Verehrung sprach?
Clara Haskil wird am 7. Januar 1895 in der rumänischen Hauptstadt Bukarest als zweite von drei Töchtern jüdischer Eltern geboren. Bereits mit drei Jahren zeigt sich ihre außerordentliche musikalische Begabung. Sie hört eine Melodie und spielt sie wenig später fehlerfrei nach. Den ersten Klavierunterricht bekommt sie von ihrer Mutter Berthe.
Einschneidend für ihre persönliche Entwicklung ist der frühe Tod des Vaters. Im Winter 1899 gerät die herrschaftliche Wohnung der Familie in Brand. Bei den Löscharbeiten holt sich Isaac Haskil eine Lungenentzündung, an der er bald darauf stirbt. Die Mutter ist nunmehr vollständig auf die finanzielle Unterstützung ihrer beiden Brüder angewiesen.Zuerst kommt die Hilfe vom jüngsten Bruder der Mutter, Isaac Moscuna, so dass sie ihrer fünfjährigen Tochter den Besuch des Bukarester Konservatoriums ermöglichen kann. Zwei Jahre später erlaubt ein Stipendium der rumänischen Königin Elisabeth, dass Clara ihre musikalische Ausbildung in Wien fortsetzen kann. Dort lebt der zweite Bruder der Mutter, Avram Moscuna, ein gescheiterter Arzt und eigenbrötlerischer Junggeselle, der sich seiner begabten kleinen Nichte mit viel Ehrgeiz annimmt. Er unterbindet jeden geselligen Kontakt des Mädchens zur Außenwelt und unterrichtet sie selbst im Lesen, Schreiben und Rechnen. Eine Schule wird sie nie besuchen - allein die Förderung ihrer musikalischen Karriere ist von Bedeutung. Dieser übermächtige Einfluss ihres Onkels hat zur Folge, dass Clara Haskil zeitlebens sehr schüchtern und ohne Selbstvertrauen sein wird. Ihr Können als Klavierspielerin steht jedoch außer Frage. In einer Kritik anlässlich eines Konservatoriums-Konzerts heißt es über die Neunjährige: „Ob sie Bach, Schumann oder Chopin spielt, alles lebt, ist voller Sensibilität, Anmut und Temperament. Alles ist von Grund auf erfasst, empfunden und vollendet bis ins kleinste technische Detail.“ Diese Aussage wird bestimmend für ihre ganze Laufbahn als Pianistin bleiben.
1905 zieht Clara mit ihrem Onkel nach Paris und bewirbt sich um ein Studium am dortigen Conservatoire – zuerst erfolglos, da viele hochbegabte Kinder um einen Platz anstehen. 1907 endlich kommt Clara Haskil in die Klasse von Alfred Cortot, ein bedeutender Klavierpädagoge und eine einflussreiche Persönlichkeit im Musikleben. Neben Klavier spielt sie auch Violine. Ihren Abschluss macht sie 1910 mit dem Premier Prix du Conservatoire. Es folgen erste erfolgreiche Konzerte in der Schweiz, Italien und Frankreich.
Bereits während ihres Studiums machen sich die ersten Anzeichen einer Skoliose bemerkbar. Durch diese Rückgratverkrümmung muss sie zuerst das Violinspielen aufgeben. Ab Dezember 1913 muss sie ihre Auftritte unterbrechen. Ihr Onkel Avram erkundigt sich nach Behandlungsmöglichkeiten und fasst den Entschluss, seine Nichte in einem bekannten Zentrum für Knochenerkrankungen in Berck-sur-Mer an der französischen Kanalküste unterzubringen. Dort beginnt für Clara Haskil eine unmenschliche Tortur: „Dieser Ort, der mit seinen riesigen Krankenhauskasernen als Inbegriff der Trostlosigkeit geschildert wird, war etwa hundert Kilometer von der Front entfernt (…) Die damalige Standardmethode bei der Behandlung von Rückgratverkrümmung war ebenso hart wie ineffektiv: durch ein starres Gipskorsett versuchte man, die Wirbelsäule zu begradigen. Diese Begradigung wurde gegen den natürlichen Widerstand der Rückenmuskulatur und –bänder erzwungen, und die hauptsächlichen Folgen dieses Heilverfahrens waren starke Schmerzen.“
Monatelang ist Clara Haskil mit dem ganzen Oberkörper in Gips eingeschlossen und kann sich nicht bewegen. Als die Schmerzen unerträglich und sie immer schwächer wird, veranlasst der Onkel endlich einen Arztwechsel. Dr. Calvé befürwortet, dass sie ein Korsett trägt, das ihr die freie Bewegung der Arme und das Klavierspielen möglich macht. Da Clara sehr menschenscheu ist, schließt sie in Berck-sur Mer kaum Freund- bzw. Bekanntschaften. Sie verbringt dort eine Zeit großer Einsamkeit und findet nur in der Musik Ablenkung. Dass sie später einer der bedeutendsten Mozart-Interpretinnen wird, sehen ihre Biografen vorwiegend darin, dass sie sich während dieses vier Jahren dauernden Sanatoriumsaufenthalts sehr intensiv mit seiner Musik beschäftigt. 1917 scheint die Skoliose endlich zu stagnieren. Clara Haskil bekommt ein Stützkorsett aus elastischem Zelluloid und kann endlich wieder kleinere Reisen unternehmen. Sie besucht ihre Mutter und Schwester in Paris. Die Mutter ist an Krebs erkrankt und stirbt in der Sylvesternacht.
Nachdem Clara Haskil noch eine Blinddarmoperation über sich ergehen lassen muss, scheint mit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch für sie die schwere Zeit vorbei zu sein. Sie versucht wieder Anschluss an das Konzertleben zu bekommen. Jedoch mit sehr mäßigem Erfolg. Clara Haskil ist keine Frau, die sich gut verkauft, sie hat wenig Charisma. Sie wirkt, als wolle sie sich vor sich selbst verstecken. Sie findet jedoch immer wieder Mäzeninnen (u. a. Prinzessin Winnaretta de Polignac, die Tochter des amerikanischen Nähmaschinenfabrikanten Singer und Gönnerin vieler Künstler wie z.B. Pablo Picasso), die ihre Begabung erkennen und ihr in der Schweiz im kleinen Rahmen Auftritte verschaffen. So überbrückt sie die zwanziger und dreißiger Jahre finanziell mehr schlecht als recht. Für die praktischen Dinge des Lebens hat sie keinen Sinn, so dass ihr oft die Schwestern Lili und Jeanne unter die Arme greifen und die Dinge regeln müssen. Sie kränkelt in dieser Zeit sehr oft, klagt in ihren Briefen an Freunde und KollegInnen über Erkältungen, Atembeschwerden und Kopfschmerzen.
Bei Beginn des Zweiten Weltkriegs muss sie Paris verlassen. Gemeinsam mit ihrer Schwester Jeanne, einer Geigerin, findet sie erst in Marseille und dann in Cannes eine vorübergehende Bleibe. 1942 kommt eine neue schwere Krankheit zum Ausbruch. Nachdem sie immer häufiger über Kopfschmerzen geklagt hatte, kommen nun auch Sehstörungen hinzu. Mehrere Ärzte werden konsultiert, bevor endlich die Diagnose feststeht. Ein Gehirntumor. Zuerst findet sich in der freie Zone kein Arzt, der den Eingriff durchführen möchte. Schließlich kommt aus Paris ein bekannter Gehirnchirurg, der die Pianistin bereits verschiedene Male bei Konzerten erlebt hat. Der Eingriff wird unter örtlicher Betäubung durchgeführt, dauert vier Stunden, während denen sie zwischen Leben und Tod schwebt. Da der Tumor nicht bösartig war und die anschließende Behandlung komplikationslos, tritt sie – noch einen Kopfverband tragend - drei Monate danach wieder bei einer öffentlichen Veranstaltung auf. Sie spielt ihr Lieblingswerk, das Konzert in d-moll, KV 466 von Mozart, das „eine Vision von Schicksal, Leid und Tod heraufbeschwört, gegen die der Solist rebelliert.“Ende 1942 muss sie auch Südfrankreich verlassen, da der Einmarsch der deutschen Soldaten bevorsteht. Sie siedelt in die Schweiz über und erlebt hier noch einige karge Jahre. Sie ist weit über 50, als nach Ende des Zweiten Weltkriegs der große künstlerische Durchbruch für Clara Haskil kommt. Sie bekommt immer mehr Anfragen, wird in den fünfziger Jahren zur gefeierten Pianistin, die zusammen mit berühmten Dirigenten wie Rafael Kubelik oder Herbert von Karajan auftritt, unternimmt große Tourneen u.a. in die USA und zahlreiche Schallplattenaufnahmen entstehen. Die Musikwelt ist von ihrem schlichten, aber dennoch ausgereiften Spiel begeistert.
Immer wieder finden sich in der Presse Bemerkungen über ihr äußeres Erscheinungsbild, das die Kritiker im scharfen Gegensatz zu ihrem Spiel erleben. Der gekrümmte Rücken lässt sich nicht mehr verbergen, ihr Kopf neigt sich stark nach vorne und die Haare fallen ihr aus.
Dass sie auf solche Kritiken mit scharfer Ironie reagiert, zeigt ein Brief an ihre Schwester Jeanne vom Februar 1960: „Die Kritiken sind voller Begeisterung. Eine beginnt mit: ‚Die fünfundsechzigjährige Pianistin Clara Haskil, krank, gekrümmt, hat wie Klemperer und Fournier gezeigt, wie sehr der Geist über die Materie triumphieren kann.’…Sehr hübsche Sprüche, voller Feingefühl auch gegenüber Fournier, den man sofort hinken sieht. Ein Haufen Schwachköpfe!“
Ihr Leben findet ein sehr plötzliches Ende. Am 6. Dezember 1960 stolpert sie auf der ersten Stufe der Bahnhofstreppe in Brüssel, wo sie ein Konzert geben soll. Sie fällt mit dem Kopf auf einen Stein und wird bewusstlos. Ins Krankenhaus eingeliefert, stellen die Ärzte einen Schädelbruch und eine Gehirnblutung fest. Sie muss notoperiert werden und sechs Stunden nach dem Eingriff stirbt Clara Haskil in der ersten Stunden des 7. Dezember.
Ihr Leichnam wird nach Paris überführt und auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.
Quellen:
http://www.koelnklavier.de/texte/interpreten/haskil.html - Wolfgang Lempfrid: Clara Haskil (Deutschlandfunk)
Monica Steegmann und Eva Rieger (Hrsg.): Frauen mit Flügel. Lebensberichte berühmter Pianistinnen. Von Clara Schumann bis Clara Haskil. Frankfurt am Main 1996
Apropos Clara Haskil mit einem Essay von Eike Wernhard. Frankfurt am Main 1997
aus WeiberZeit Nr. 19/Juli 2010 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
Erscheinungsweise: vierteljährlich
Herausgeberin
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