Berühmte behinderte Frauen

Betty Hirsch (1873 – 1957)

Gründerin der ersten Blindenschule

 

von Anneliese Mayer

 

In der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek ist im Erdgeschoß ein Arbeitsraum für seh- und körperbehinderte Menschen zu finden, der mit Computern ausgestattet ist, die u.a. eine Sprachausgabe oder Braillezeile haben. Dieser Raum ist benannt nach einer blinden Pädagogin, die heute niemand mehr kennt: Betty Hirsch. 

 

Betty Hirsch war maßgeblich am Aufbau neuer Ausbildungsgänge für blinde Menschen beteiligt. 1914 eröffnete sie mit Unterstützung des Augenarztes Prof. Paul Silex in Berlin die erste Schule für Kriegsblinde. Ihr Ziel war es, die Späterblindeten soweit zu befähigen, damit sie in ihre alten Berufe zurückkehren und selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten.

 

Am 15. Januar 1873 in Hamburg als jüngstes von acht Kindern des jüdischen Kaufmanns Meyer Hirsch und seiner Frau Sara geboren, erlebt Betty Hirsch eine unbeschwerte Kindheit. 

 

Ihr Leben verändert sich im Alter von 12 Jahren. Ein paar Tage nach einem Sturz im Garten entzünden sich ihre Augen. Verschiedene Augenärzte werden aufgesucht, aber keiner kann ihr helfen. Ihre Sehkraft lässt immer mehr nach und schließlich erblindet sie mit 17 Jahren nach einer Augenoperation vollständig. Dass ihre Blindheit der Grund dafür sein soll, als hilflos angesehen und von anderen Personen abhängig zu werden, kann Betty Hirsch nicht akzeptieren:

 

„Als man aber anfing, mir mit jeder geringen alltäglichen Arbeit wie anziehen und sonstigen Handgriffe helfen zu wollen, erwachte ein Wille von Selbständigkeit in mir, der mir half, mein weiteres Schicksal mit Würde zu tragen.“ 

 

Dennoch vergehen einige Jahre, bis sie soweit ist, trotz familiärer Widerstände ihren Weg zu gehen. 

 

Der Ehrgeiz etwas zu schaffen ist gepackt

Da ihre schulische Laufbahn mit der Augenerkrankung abrupt unterbrochen wurde, beschließt die nun 21-jährige an der Preußischen Blindenanstalt in Berlin-Steglitz wieder die Schulbank zu drücken. Sie wird mit Punkt- und Kurzschrift vertraut gemacht, besucht die Fortbildungsklasse in Musik, Literatur und Englisch  und lernt die typischen Tätigkeiten für Blinde (Korb- und Stuhlflechten). Richtig wohl fühlt sie sich jedoch nicht in der Anstalt unter lauter Blinden, die zudem noch aus „armen, ungebildeten Kreisen“ kommen. Betty Hirsch ist ehrgeizig. Sie stellt hohe Anforderungen an sich. So bleibt es nicht aus, dass sie mehrmals scheitert. Sie beginnt ein Musikstudium am Konservatorium in Berlin und ist glücklich mit sehenden jungen Frauen zusammen zu sein. Diese Ausbildung finanziert sie durch Privatstunden bei blinden Kindern. Sie lernt ihren Freund‚ Armin‘ kennen, der sie auch während ihrer Tätigkeit als Konzertsängerin musikalisch begleitet. Die Anstrengungen durch die vielen Konzertreisen und Auftritte führen 1907 zu einem Nervenzusammenbruch.

 

Es folgt ein Aufenthalt im Sanatorium  und der Entschluß, ein Sprachstudium in London aufzunehmen. Danach unterrichtet sie wieder blinde Kinder aus wohlhabenden Familien. Abwechselnd hält sie sich in Hamburg und Berlin auf.

 

Zwischen den Weltkriegen

Betty Hirsch besucht gerade einen Feriensprachkurs in London, als der 1. Weltkrieg ausbricht. Sie muss das Land verlassen und auf der Fahrt hört sie zum ersten Mal das Wort „Kriegsblinde“. Zielstrebig macht sie sich auf die Suche nach den Kriegsblinden und findet sie im Maria-Viktoria-Krankenhaus in Berlin, das Geheimrat Silex leitet. Sie überzeugt den berühmten Augenarzt, dass die Männer mehr als medizinische Hilfe benötigen. 

 

Am 22. November 1914 wird die Privatschule eröffnet und sie beginnt ehrenamtlich fünf Kriegsblinde in blindenspezifischen Fertigkeiten zu unterrichten. Bald gelingt es ihr, den Männern Arbeitsplätze in einer Munitionsfabrik (!) in Spandau oder bei AEG und Siemens zu beschaffen, wo sie vollen Lohn erhalten. Mit Fortschreiten des Krieges vergrößert sich die Zahl ihrer Schüler (250 insgesamt bis Kriegsende). Viele haben früher in der Landwirtschaft gearbeitet und Betty Hirsch findet in Schlesien ein Gut, auf dem die blinden Bauern geschult werden, um ihre Arbeit blindheitsbedingt wieder aufzunehmen.  Immer mehr Spenden bekommt Betty Hirschs Privatschule und sie kann die entsprechenden Lehrmittel anschaffen. Weitsichtig erkennt sie, dass die neuen Büroberufe sich für Blinde besonders eignen. Sie bildet Männer und Frauen als Phono- und StenotypistInnen und MaschinenschreiberInnen, aber auch als TelefonistInnen aus. Nach Kriegsende spezialisiert sich Betty Hirsch auf die Ausbildung in den Büroberufen. In den zwanziger Jahren unternimmt Betty Hirsch diverse Auslandsreisen und berichtet über ihre Arbeit, zu der neben der Ausbildung auch die Berufsberatung und die Stellensuche gehört. In den USA verbringt sie einen Tag mit Helen Keller und wird vom amerikanischen Präsidenten als „deutsche Helen Keller“ begrüßt.

 

Nach der Machtergreifung geht Betty Hirsch im Oktober 1934 für 13 Jahre nach England ins Asyl. Sie veranlasst ihren Stellvertreter Thiermann, in die SA einzutreten und die Schule weiterzuführen. Als sie 1947 zurückkehrt, möchte sie die Schule (inzwischen heißt sie Silex-Handelsschule) an eine Handelsschule für Sehende angliedern. Die Behörden legen ihr jedoch Steine in den Weg. 

 

Große öffentliche Aufmerksamkeit findet Betty Hirsch noch mal an ihrem 80. Geburtstag. Sie beginnt ihre Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Kurz nach deren Beendigung stirbt sie am 8. März 1957 an Altersschwäche.

 

Quellen:

Betty Hirsch – Augen einer blinden Frau sahen neue Wege für Blinde.
In:Gertrud Fundinger: Stiefkinder des Schicksals, Helfer der Menschheit. München 1932

Christine Pluhar: Betty Hirsch – Lebensbild einer blinden Frau.
Hausarbeit zur Prüfung für das Lehramt an Sonderschulen. Fachrichtung: Blinden- und Sehbehindertenpädagogik. Berlin 1981

Christine Pluhar: Betty Hirsch - weiblich, jüdisch, blind – dreifach chancenlos? 
In: blind-sehbehindert Zeitschrift für das Sehgeschädigten-Bildungswesen. 109. Jahrgang. 1-4/1989


 


 

aus WeiberZeit Nr. 1/Oktober 2003 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
Erscheinungsweise: vierteljährlich

Herausgeberin
Weibernetz e.V. - Projekt „Politische Interessenvertretung behinderter Frauen“
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