Berühmte behinderte Frauen

Audre Lorde (1934 –1992)

 

von Anneliese Mayer

 

Eudora, Eudora, was sagtest du damals immer zu mir?
Verschwende nichts, Chica, nicht einmal den Schmerz
Gerade den Schmerz nicht.
(Audre Lorde: Zami. S. 333)


Auf den ersten Blick betrachtet, gibt es viele Parallelen zwischen den beiden Schriftstellerinnen Maxie Wander und Audre Lorde. Beide waren etwa gleich alt - beide hatten eine Behinderung, die nicht sofort auffiel – beide haben eine Tochter und einen Sohn auf die Welt gebracht – beide erkrankten mit Mitte 40 an Brustkrebs – beiden wurde die rechte Brust abgenommen – beide starben im Monat November an Leberkrebs.

 

Und doch gibt es eine Diskrepanz im Charakter und in der Lebensweise dieser beiden Frauen, wie sie größer nicht sein könnte. Zwischen der zurückhaltenden bürgerlichen Maxie Wander (siehe WeiberZEIT 12/2006) und der kämpferischen Außenseiterin Audre Lorde liegen Welten, im wahrsten Sinne des Wortes.

 

Audre Geraldine Lorde wird am 18. Februar 1934 im New Yorker Stadtteil Harlem geboren. Die Eltern – Linda und Byron Lorde – sind in den zwanziger Jahren aus der Karibik nach New York ausgewandert. Anfangs arbeiten beide als Aushilfskräfte im berühmten Waldorf Astor-Hotel. Byron lässt sich nach dem Börsenkrach als Makler ausbilden und verwaltet fortan möblierte Zimmer in kleinen Wohnanlagen. 

 

Gemeinsam mit ihren älteren Schwestern Phyllis und Helen wächst Audre unter der Obhut ihrer strengen Mutter auf. Die Kinder müssen gehorchen und dürfen sich dem Willen der Mutter nicht widersetzen. Sie sollen sich unauffällig verhalten, damit in der Öffentlichkeit niemand an ihnen Anstoß nehmen konnte. Die Eltern sind der Überzeugung, durch Anpassung die Kinder vor der feindlichen Umwelt, die durch Rassendiskriminierungen geprägt ist, schützen zu können. Dass Schwarze in den USA in dieser Zeit erniedrigt werden, ist im Elternhaus von Audre Lorde nie Gesprächstoff. Die Verletzungen werden verschwiegen. Als Erwachsene bringt Audre Lorde mit der Feststellung „Your silence will not protect you!“(Dein Schweigen wird dich nicht schützen!) ihre Kindheitserfahrungen auf den Punkt.

 

Audre ist jedoch kein unauffälliges Mädchen. Da ist zum einen ihre starke Kurzsichtigkeit. Dem Gesetz nach wird sie als blind eingestuft. Mit fünf Jahren besucht sie die Sehbehindertenklasse an der Bezirksschule und bekommt ihre erste Brille. „Bevor ich eine Brille trug, kannte ich Bäume nur als hohe braune Säulen, die in dicken flauschigen Wirbeln blasser werdender Grüntöne endeten“ beschreibt Audre Lorde ihre visuelle Wahrnehmung. Hinzu kommt, dass die kleine Audre bis zu diesem Zeitpunkt stumm war. Eine kleine Membran unter der Zunge wird durchschnitten und sie lernt gleichzeitig sprechen und lesen.  Jedoch ist sie sehr erstaunt über die Figuren in den Bilderbüchern, die so gar keine Ähnlichkeit mit ihr haben: „Sie waren blond und weiß und lebten in Häusern mit Bäumen drumherum und hatten Hunde mit Namen Spot.“ 

 

Zum anderen wird Audre mehr und mehr zu einem widerspenstigen Kind. Als schwarze Schülerin einer katholischen Schule erfährt sie die herablassende und scheinheilige Art der Nonnen. Diese Verhaltensweise kann sie nicht widerspruchslos hinnehmen. Als Teenager schreibt sie ihre ersten Gedichte, um ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen und mit ihrer Einsamkeit und ihrem Anders-Sein zurecht zu finden.

 

Bis 1954 besucht Audre die High School, um danach am Hunter-College in New York Literaturwissenschaft zu studieren. Sie ist schon mit 17 von zu Hause ausgezogen, nachdem sie sich mit den Eltern überworfen hat. Sie finanziert ihr Studium durch verschiedene Jobs als Fabrikarbeiterin (u.a. an Röntgenmaschinen) als Sprechstundenhilfe etc.

 

Ein Jahr ihrer Studienzeit verbringt Audre in Mexiko an der National University. Dieses Jahr wird für sie zu ihrem Schicksalsjahr. Sie findet als Anfang Zwanzig-jährige zu ihrer Identität als Lesbe und Poetin. Nach New York zurückgekehrt, lebt sie nun im (weißen) Künstlerviertel Greenwich Village und findet Zugang zur schwul-lesbischen Szene, in der sie sich als schwarze Lesbe wieder in einer Außenseiterrolle sieht. 1961 beendet sie ihr Studium an der Columbia University mit dem Master-Abschluß in Bibliothekswissenschaft und arbeitet als Bibliothekarin. Sie heiratet den Rechtsanwalt Edwin Rollins und bekommt zwei Kinder, Elizabeth und Jonathan. Nach wenigen Jahren wird die Ehe geschieden. Ab 1970 erzieht sie gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Francis Clayton die Kinder. Die intensive Beziehung mit Francis dauert 22 Jahre. 

 

Audre Lorde bezeichnet sich selbst offensiv als „Schwarze, Lesbe, Mutter, Kriegerin und Dichterin“. In den siebziger Jahren schreibt sie ihre meisten Gedichte und veröffentlicht sie. Sie lehrt nun am Tougaloo College, Mississippi und am Hunter-College, wo sie selbst studiert hat. Sie ist aktiv für die Rechte von schwarzen Frauen und gründet einen feministischen Verlag (Kitchen Table: Women of Color Press). 

 

1978 wird bei Audre Lorde Brustkrebs festgestellt und die rechte Brust entfernt. Alles scheint gut zu verlaufen, bis fünf Jahre später – kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag – festgestellt wird, dass der Krebs die Leber befallen hat. Trotz des Anratens der Ärzte in New York entscheidet sie sich gegen eine erneute Operation. Sie kommt im Sommer 1984 für eine Gastprofessur nach Berlin, um Seminare mit afro-deutschen Frauen abzuhalten. Den Deutschland-Aufenthalt nutzt sie zudem, um sich einer alternativen ganzheitlich ausgerichteten Krebstherapie zu unterziehen. Für Audre Lorde ist es von immanenter Bedeutung, niemals die Selbstbestimmung über den eigenen Körper aus der Hand zu geben. Für sie ist der Kampf gegen den Krebs gleichzeitig ein politischer Kampf. Mit der Tatsache, Leberkrebs zu haben, hat sie acht Jahre überlebt. Sie hat die Stadien der Wut, der Verzweiflung und der Resignation beschrieben, aber sie hat bis zuletzt für ein Leben gegen Fremdbestimmung und Unterdrückung von schwarzen, lesbischen und behinderten Frauen gekämpft. 

 

Die letzten Jahre ihres Lebens verbringt Audre Lorde in der Heimat ihrer Eltern – in St. Croix bei Grenada. Sie stirbt dort am 17. November 1992. Sie hat sich dort auch einen neuen Namen gegeben, der auf ihre afrikanischen Wurzeln hinweist: Gamba Adisa – was bedeutet: „Warrior: She Who Makes Her Meaning Known“ (Kriegerin: Sie, die ihre Meinung kundtut)


 

Anmerkung: Audre Lorde hat sich meines Wissens nie geäußert, weshalb sie E. Rollins geheiratet hat. Wahrscheinlich gab es im purita-nischen Amerika der sechziger Jahre keine andere Möglichkeit für eine lesbische Frau Mutter zu werden, als durch eine Ehe.

 

Quellen:

Audre Lorde: Zami. Ein Leben unter Frauen. Fischer Taschenbuch. Frankfurt am Main 1993

Audre Lorde: Auf Leben und Tod. Krebstagebuch. Orlanda Frauenverlag. Berlin 1994

http://en.wikipedia.org/wiki/Audre_Lorde



 


 

aus WeiberZeit Nr. 14/Dezember 2007 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
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