Berühmte behinderte Frauen
Alma M. Karlin (1889-1950)
von Anneliese Mayer

Leute sind allzu gerne geneigt, einen Hinkenden oder sonst sichtlich vom Leben Gebrandmarkten dummerweise zu fragen, was er denn habe (obschon man es ja ohnehin von weitem sieht und es den Frager nichts angeht), aber wie wäre es, wenn man an so viele Menschen dieser Art herantreten und sie fragen würde, wo um Himmels willen sie das viele Stroh im Gehirn her hätten?
(Ein Mensch wird, S.207)
Vor genau hundert Jahren, am 24. November 1919, begab sie sich auf ihre Weltreise. Geplant hatte sie, drei Jahre unterwegs zu sein – es wurden jedoch acht Jahre daraus. Ihre Reiseberichte wurden sehr bald in großen, meist deutschsprachigen Zeitungen veröffentlicht und machten sie zu einer der berühmtesten Reiseschriftstellerinnen der 1920er und 1930er Jahre.
Das Ehepaar Karlin ist nicht mehr jung, als sich überraschend Nachwuchs ankündigt. Jakob Karlin ist ein pensionierter Major der österreichischen Armee, 60 Jahre alt und lungenleidend. Vilibalda Miheljak unterrichtet an einer Mädchenschule in Cilli/Celje1 und ist 45. Am 12. Oktober 1889 ist die Freude nicht besonders groß, als „ein gelbgrünes, linksseitig leicht gelähmtes Mädchen, das sich ein Jahr lang nicht zum Bleiben noch (leider) zum Gehen entschließen konnte“ (1, S.8) auf die Welt kommt. Da das Neugeborene „mehr nach Seele als nach Leib aussah“ (1, S.8f) wird es auf den Namen Alma Maximiliana getauft. Jakob Karlin hätte sich einen Sohn gewünscht, kann sich jedoch mit den Gegebenheiten abfinden. Schwerer wiegt jedoch für die Mutter, dass ihre Tochter behindert ist. Sie bemerkt sehr schnell andere Auffälligkeiten bei ihrer Tochter: Der Kopf ist zu groß, „die Augen sind unrichtig eingehängt“ (1, S.9) und die Ohren stehen ab. Es wird ein Professor in Graz konsultiert, der Alma keine Zukunftschancen gibt: „‘Was wollen sie eigentlich mit dem Kind? Es hat einen Wasserkopf und lebt kein halbes Jahr mehr!‘“ (1, S.9). Dass die geistige Entwicklung des Mädchens zurückbleiben würde, war eine weitere Prophezeiung, nachdem die anberaumte Lebenszeit von einem halben Jahr bereits überschritten ist.
Graz und Laibach(2) werden konsultiert um diese Abweichung von zwei Zentimetern wieder in Ordnung zu bringen. Nun beginnt für Alma eine Zeit der Folter. Sie wird am Kopf aufgehängt, in Rückengurte eingezwängt, muss stundenlang Turnübungen machen und auf harten Brettern schlafen. Diese jahrelange Tortur mag der Grund sein, dass sie zeitlebens eine Abneigung gegen Berührungen verspürt.
Möchte sie lesen, muss sie dabei durch den Raum gehen, unter dem wachsamen Auge der Mutter. So wird sie zunehmend in sich gekehrter und schwermütig. Mimi, das Dienstmädchen, versucht sie aus ihrer Betrübnis zu holen, indem sie gemeinsam mit älteren Freundinnen von Alma einen jungen Mann erfindet, der ihr lange Briefe schreibt und so die romantische Ader der Heranwaschenden anspricht, damit sie sich in Träumereien flüchten kann. In dieser Zeit entdeckt sie auch ihr großes Interesse für Sprachen. Sie lernt im Privatunterricht Französisch und Englisch. Sobald sie 18 ist, legt sie darin die Staatsprüfung ab und hat somit die Voraussetzung erlangt, selbst zu unterrichten. Sie setzt alles daran von zuhause wegzukommen, nachdem sie mit der Mutter vorher noch eine größere Europareise gemacht hat.
Im Herbst 1908 bricht sie alleine nach London auf. Die Mutter hat ihre eine monatliche Unterstützung zugesichert. Damals sind es vor allem deutschsprachige, junge Frauen, die als Erzieherinnen in den vornehmen Londoner Familien angestellt werden. Alma weiß jedoch: „Erzieherin wollte ich jedoch nur im äußersten Notfall werden, denn zu Kindern hatte ich mich nie hingezogen gefühlt und die Beschränkung meiner persönlichen Freiheit erschien mir als die größte Plage, die mir bei einem derartigen Beruf bevorstand.“ (1, S.130). Es ist eine mühsame Suche, aber schließlich entdeckt sie „Miss Ainslie’s Translation Office und School of Language“. Sie wird als Übersetzerin eingestellt und hat anfangs zudem die Möglichkeit dort kostenlos Schreibmaschine und Stenografie zu lernen. Sie wird nun finanziell unabhängig und ist unablässig dabei weitere Sprachen zu lernen: Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Russisch, Italienisch und Spanisch. In den Abendstunden gibt sie Asiaten Englischunterricht. Durch einen Japaner lernt sie dessen Kultur kennen und begeistert sich für die östliche Philosophie. Ein Chinese, dem sie Privatstunden gibt, macht ihr einen Heiratsantrag. Sie verloben sich und gemeinsam fahren sie nach Cilli. Alma glaubt anfangs noch, die ihr unangenehmen Seiten des jungen Mannes ändern zu können, merkt doch bald, dass ihr das nicht gelingt und löst die Verbindung auf. Später wird sie schreiben: „Einige Male in meinem Dasein hat ein Mann einen gewissen Einfluß gewonnen, doch immer war es, genau untersucht, entweder Bewunderung des Charakters oder eines bedeutenden Talents, was mich angezogen hatte, mich blendete, mich in Wunschtiefen warf, doch im-mer eine Gehirn-, nie eine Herzensliebe wurde, daher an der Erotik des Partners rasch scheiterte.“ (1, S.76)
Alma hat ihren Alltag sehr streng strukturiert und gönnt sich wenig Vergnügungen oder Genuss. Sehr oft besteht ihre Mahlzeit nur aus Tee und Brot. Mit Erfolg hat sie ihre Sprachprüfung abgelegt und hofft, bald auf Reisen gehen zu können, da bricht der Erste Weltkrieg aus. Sie registriert sehr sensibel den künstlich erzeugten Hass durch die Kriegspropaganda und bekommt ihn direkt als Angehörige eines mit England verfeindeten Landes zu spüren. Sie wird als Spionin verdächtigt und das Übersetzungsbüro reduziert ihr Gehalt. Bevor sie sich weiteren Repressalien aussetzen muss, verlässt sie London. Durch ihre Kontakte zur norwegischen Seemannskirche kann sie sich im Herbst 1914 auf einen Frachtendampfer begeben und landet erst mal in Bergen. In Norwegen und Schweden verbringt sie einige Jahre, gibt Sprachunterricht und besucht Bibliotheken, um ethnologische und zoologische Studien zu betreiben. Vor Ende des Krieges kehrt sie nach Cilli/Celje zurück und betreibt eine private Sprachenschule.
Das Verhältnis zu ihrer Mutter hat sich jedoch in den Jahren ihrer Abwesenheit nicht gebessert, so dass dies mit ein Grund ist, sich der „Entzündung der Einbildungsnerven“ (2, S. 11) hinzugeben, wie sie ihre Abenteuerlust bezeichnet. Sie plant eine Reise nach Japan, das Land, dessen Kultur sie sehr schätzt und für das sie nach langem Hin und Her ein Visum bekommt. 1919 startet sie ihre „Columbusfahrt“ – begleitet von ihrer Schreibmaschine „Erika“ – in Triest und kommt erst mal nur bis Genua, da noch einige bürokratische Hürden zu bewältigen sind. Ende Februar 1920 besteigt sie den Ozeandampfer „Bologna“ und fährt in Dritter Klasse zuerst nach Lateinamerika(3).
Ihren ersten größeren Aufenthalt hat sie in Peru. Als allein reisende Frau in einer fremden Kultur macht sie die Erfahrung: „In Europa vor dem Ersten Weltkrieg war ich ziemlich unbeachtet und daher leicht gereist. In Südamerika dagegen war ich plötzlich der ungeschickte Kanarienvogel unter Spatzen und Finken. Man stelle sich nur einmal vor: Eine Frau, nein, Frau hat wirklich einen zu weiblichen Anstrich, sagen wir ein Wesen, das gewissermaßen sächlich sächlich ist, mit weiblichem Artikel, träumt davon, wie die Weisen in den Höhlen des Himalaya zu leben und steht plötzlich inmitten von Menschen, für die das Sinnliche alles ist“ (2, S.383). Sie entgeht mehreren Vergewaltigungsversuchen. Keineswegs ist sie eine Frau, die sich einschüchtern oder von ihrem Vorha-ben, Neues zu erkunden, abbringen lässt. Sie ist zwar klein und zierlich (Sie ist ca. 150 cm groß und wiegt 47 kg), weiß sich jedoch zu wehren und greift auch mal zu einem Messer oder einer Eisenstange.
Als sie gegen Ende 1920 in Panama eintrifft, ist ihre Reisekasse fast leer. Sie wohnt meist in billigen Unterkünften und ist bei ihren Mahlzeiten bescheiden. Da ihr jedes Geschick für hauswirtschaftliche Tätigkeit fehlt, muss sie das Waschen und Flicken bzw. die Neuanschaffung ihrer Kleidung bezahlen. Da sie mit Sprachunterricht nicht viel verdient, bewirbt sie sich als Dolmetscherin – sie wird vereidigter „Dolmetsch von Stadt und Provinz von Panama“ (2, S.152) und ist für die Kanalgesellschaft am Gericht für vier Monate tätig.
Danach geht die Reise weiter durch die Staaten Mittelamerikas und durch Mexiko. Ihre Reiseschilderungen schickt Alma Karlin nach Deutschland. In 23 Tageszeitungen wie der Berliner Morgenpost oder Kölner Anzeiger werden ihre Artikel abgedruckt. Liest man sie heute, so lösen ihre rassistischen Äußerungen ein starkes Unbehagen aus, wie z.B. „Negerinnen verdienen am schnellsten und leichtesten durch ’Liebe‘“ (2, S.154) oder „Die Mischlinge beuten ihn (den Europäer oder Amerikaner, AM) aus, stellen sich liebenswürdig und scheuen vor keiner Niedertracht hinter dem Rücken zurück, trachten ihm nach Gut und Leben (…)" (2, S.174) Alma Karlin bewegt sich darin leider im Kanon ihrer Zeit.
Inzwischen ist auch ihr erster Roman „Der kleine Chinese“ veröffentlicht, und sie hat sich einen Namen gemacht.
1922 ist sie endlich in Japan angekommen. In Tokio nimmt sie eine Stelle an der Deutschen Botschaft an und unterhält freundschaftliche Kontakte zu den dort lebenden Europäer*innen und japanischen Künstlern. Von diesem Land berichtet sie nur positiv. Ihre mystisch-religiöse Einstellung (Theosophie) findet hier eine weitere Bestätigung.
Ihre nächsten Reiseetappen, die sie mit dem Zug zurücklegt sind: die Manschurei, Peking, Hongkong, Korea - danach geht es weiter nach Formosa, auf die Philippinen und nach Australien, von wo aus es sie auf die Südseeinseln zieht. Auf Neuguinea lebt sie unter den Eingeborenen. Sie erkrankt heftig an Malaria und tropischer Ruhr und entkommt nur knapp den Kannibalen. Auf ihrem weiteren Weg treffen wir sie ab 1926 in Indonesien, Java, Sumatra, Thailand, Indien, Somalia und Eritrea, um nur einige Station zu nennen, bevor sie sich über den Nahen Osten auf den Heimweg macht, da sie die Nachricht erhalten, dass ihre Mutter im Sterben liegt.
Nachdem Alma Karlin Weihnachten 1927 von ihrer Weltreise zurückkehrt, ist sie berühmt. Sie veröffentlicht nun ihre Erlebnisse in Büchern und schreibt Romane und Novellen 1931 erscheint die Autobiografie, in der sie ihre Kindheit und die Zeit bis zu ihrer „Columbusfahrt“ schildert.
Ihre Reisebücher werden eines Tages von der noch bei ihren Eltern in Norddeutschland lebenden Malerin Thea Schreiber Gamelin gelesen. Sie ist begeistert von der Lektüre und besucht einen der Vorträge, die Alma in Deutschland in Clubs und Frauenvereinen hält. Die beiden werden „Seelenschwestern“ und die siebzehn Jahre jüngere Thea zieht zu Alma in deren Elternhaus. Für beide ist die Mystik und Theosophie ein großer Lebensinhalt. Dem aufkommenden Nationalsozialismus steht Alma mit Ablehnung gegenüber. Sie gewährt jüdischen Journalisten, die auf der Flucht sind, in ihrem Haus Unterschlupf. Zudem weigert sie sich für deutsche Zeitungen weiterhin zu schreiben. Sie fällt wegen ihrer klaren Haltung bei der deutschen Bevölkerung in Celje in Ungnade, was sie zu dem Umzug zwingt. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs werden ihre Bücher verboten und nach Besetzung Jugoslawiens wird sie von der Gestapo verhaftet. Dank der Beziehungen ihrer Freundin Thea, kommt sie nach einigen Wochen frei und entkommt somit einem Todeslager. Ihr Kampfgeist ist jedoch ungebrochen. 1944 schließt sie sich der slowenischen Widerstandsbewegung an. „Da sie sich nicht nur dem Nationalsozialismus widersetzte, sondern auch eine überzeugte Antikommunistin war, riskierte sie auch bei den meist kommunistischen Partisanen ihr Leben, indem sie die Meinung vertrat, es gebe nichts Höheres als die Freiheit jedes einzelnen Individuums.“ (1, S.312). Sie zieht 1945 in ihre Geburtsstadt zurück und schreibt weiterhin Geschichten und Gedichte, die jedoch nicht veröffentlicht werden. An Brustkrebs erkrankt und von Thea liebevoll gepflegt, stirbt Alma Karlin am 14. Januar 1950.
Lange Zeit blieben Alma Karlin und ihr Werk vergessen, bis vor einigen Jahren die slowenische Germanistin Jerneja Jezernik sie wiederentdeckte und eine Biografie über sie schrieb, die jedoch bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Auch erinnert seit 2015 eine Bronzestatue in Celje an die berühmte Weltreisende.
Anmerkungen:
(1) Cilli (slowenisch Celje) gehörte bis 1918 zur österreich-ungarischen Monarchie und damit zur Untersteiermark. Ca. 75 % der Bevölkerung, zu der auch die Karlins zählten, war damals deutschsprachig. Ab 1918 gehörte die drittgrößte Stadt Sloweniens zum neu gegründeten Jugoslawien (anfangs unter der Bezeichnung „Königreich Serbien, Kroatien und Slowenien“).
(2) Das heutige Ljubljana
(3) Die Schiffspassage buchte sie über „Cook & Son“.
Quellen:
(1) Alma M. Karlin: Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden. Herausgegeben von Jerneja Jezernik. Berlin 2018, AvivA Verlag
(2) Alma M. Karlin: Einsame Weltreise. Herausgegeben von Jerneja Jezernik. Berlin 2019, AvivA Verlag http://www.almakarlin.si
Doris Akrap: Eine Lesbe, eine Spionin, eine merkwürdige Frau. taz am Wochenende, https://taz.de/Reiseschriftstellerin-Alma-Karlin/!5522793/
aus WeiberZeit Nr. 37/Dezember 2019 I www.weibernetz.de/weiberzeit.html
Erscheinungsweise: zweimal jährlich
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